20.04.2022

Unser Ahrtal und die Jahrhundertflut

Fritz und Barbara Zedler – beide Allianz Kunden, beide im Jahr 1922 geboren – blicken zurück auf 100 Jahre Leben, auf Krieg und Liebe, eine Pandemie und die Flutkatastrophe im Juli 2021. Eine Reportage aus Altenahr-Kreuzberg

An den ersten Kuss kann sich Barbara Zedler noch genau erinnern. Es war 1948, der Krieg noch nicht lange zu Ende und eine kräftezehrende Flucht lag hinter ihr, da verabredete sie sich mit ihrem Fritz zu einem gemeinsamen Ausflug in Lauenstein. Sie stapften den knapp 14 Meter hohen Ithturm hinauf, um einen Blick auf das idyllische Weserbergland zu erhaschen, da drehte sie sich auf der schmalen Wendeltreppe plötzlich auf dem Absatz um, ihr Herz pochte schneller als sonst, und drückte Fritz ihre Lippen auf den Mund. Drei Jahre später heirateten die beiden. Das ist nun 71 Jahre her und noch heute, sagen sie, sind sie so glücklich wie damals.

Barbara und Friedrich Zedler sitzen auf Sesseln im Wohnzimmer
Seite an Seite: Barbara und Friedrich Zedler in ihrem Wohnzimmer in Altenahr-Kreuzberg

Die Liebe sei nie erloschen, sondern über all die Jahre immer stärker geworden

Barbara und Friedrich Zedler sitzen auf Sesseln im Wohnzimmer ihres Hauses am Waldrand von Altenahr-Kreuzberg. Im Kamin knistert das Feuer, auf dem Tischliegen kleine Teller mit Gebäck und einige Fotoalben, die Zeugnis über ein Leben abgeben, das atemberaubend, abenteuerlich, aber auch romantisch verlaufen ist. Wenn Barbara Zedler über diesen ersten Kuss spricht, kann man noch immer ein leichtes Erröten ihrer Wangen feststellen, ganz so, als sei es gerade erst passiert. Die Liebe sei nie erloschen, sondern über all die Jahre immer stärker geworden, sagen sie und grinsen dabei wie zwei verschämte Teenager.

Die Zedlers sind im selben Jahr geboren, nämlich 1922, Barbara am 30. Dezember und Fritz am 11. April. Während seine Frau noch einige Monate auf die Dreistelligkeit in der Jahreszahl warten muss, hat Fritz seinen 100. Geburtstag bereits gefeiert, mit Kaffee, Kuchen, Häppchen und viel Besuch. Die Verwandtschaft war da, die Nachbarschaft, die Feuerwehr überreichte ihm einen mit Geldscheinen gespickten Helm. Auch die politische Prominenz machte ihre Aufwartung: Ortsvorsteherin, Bürgermeister und sogar die Ministerpräsidentin des Landes Rheinland-Pfalz, Malu Dreyer, kam zum Gratulieren vorbei.

»Es war die Hölle«

Fritz Zedler

Die Zedlers sind noch immer voll im Leben. Gerade erst hat das Paar eine Corona-Infektion überstanden. Täglich verfolgen die beiden aufmerksam das Weltgeschehen, lesen Zeitung und schauen Nachrichten. In der Nacht vom 14. auf den 15. Juli wurde ihre Heimat selbst zum Gegenstand globaler Berichterstattung. »Es war die Hölle«, erinnert sich Fritz Zedler an die Flut im Ahrtal. Das ohrenbetäubende Brüllen des schmalen Flusses, der in dieser Nacht zum reißenden Strom angeschwollen war, Häuser zerstörte, Autos und Campingwagen mit sich nahm. Von der Anhöhe, auf der ihr Haus gebaut ist, konnten sie am nächsten Morgen die Hubschrauber beobachten, die die Menschen von den Dächern holten, auf die sie sich vor den Fluten gerettet hatten. Auch einer ihrer Enkel war dabei. Die Zedlers wurden evakuiert, kamen bei der Tochter und ihrer Familie unter. Als sie nach sieben Wochen zurückkehrten, gab es noch immer kein Fließendwasser im Haus. Aber auch diese Krise haben die Zedlers gemeistert.

Auf dem Sekretär in einer Ecke des Wohnzimmers liegt eine Urkunde vom 1. Juni 1953.
Die Urkunde der Allianz Lebensversicherung von Fritz Zedler aus dem Jahre 1953
Garten der Eheleute Zedler
Mit Bergblick: Der Garten der Eheleute Zedler

Es ist wohl keine Übertreibung zu behaupten, dass das Ehepaar zu den ältesten und treusten Allianz Kunden in Deutschland gehört. Acht Rentenversicherungen, dazu unter anderem noch Hausrat, Haftpflicht und KFZ. Auf dem Sekretär in einer Ecke des Wohnzimmers liegt eine Urkunde vom 1. Juni 1953. Eine Allianz Versicherung auf »das Leben des Herrn Friedrich Carl Zedler, Revierförster«, Summe 50.000 Deutsche Mark. Begünstigte aber wäre nicht etwa seine Frau gewesen, sondern Philipp Freiherr von Boeselager, sein damaliger Chef. Andere Zeiten.

Im Leben der Zedlers spielte der Zufall eine große Rolle

Um überhaupt zu erfassen, wie lang ein ganzes Jahrhundert eigentlich dauert, ist es hilfreich, einen Blick zurückzuwerfen, in das Jahr der Geburt der beiden Zedlers. Friedrich Ebert war deutscher Reichskanzler, Kardinal Ratti, der Erzbischof von Mailand, wurde unter dem Namen Pius XI. zum neuen Papst gewählt. Der britische Ägyptologe Howard Carter entdeckte im Tal der Könige das spektakuläre Grab des Pharaos Tutanchamun. Der US-amerikanische Spitzensportler und spätere »Tarzan«-Darsteller Johnny Weissmüller schwamm in Kalifornien einen Weltrekord über 100 Meter Freistil. Aber auch die düstere Zukunft warf ihre Schatten voraus. Josef Stalin wurde zum Generalsekretär der Kommunistischen Partei in der gerade gegründeten Sowjetunion gewählt, und in Deutschland der politisch aufstrebende Nationalsozialist Adolf Hitler wegen aufrührerischer Äußerungen für vier Wochen ins Gefängnis gesteckt.

Im Leben der Zedlers spielte der Zufall eine große Rolle, manche würden es vielleicht auch Schicksal nennen. Beide sind im niederschlesischen Breslau aufgewachsen und besuchten dort dieselbe Grundschule, an der auch Friedrichs Vater als Pastor arbeitete. Barbara hieß damals mit Nachnamen noch Pellegrini, ihr Vater Franz war Architekt und Oberbaurat. Die Familie bewohnte eine Etage im Schloss in Mariahöfchen. Rodeln und Skifahren im Winter, im Sommer die Früchte von den Obstbäumen ernten. »Märchenhaft und paradiesisch« sei es dort gewesen, erinnert sie sich. Im Lyceum von Breslau legte sie ihre Mittlere Reife ab und besuchte anschließend die Frauenberufsschule, um Hauswirtschaft zu lernen. Das war Ostern 1939. Dann begann der Krieg und brachte dem ganzen Kontinent Chaos und Zerstörung. Und es sollte noch viele Jahre dauern, bis Barbara und Fritz auf ungewöhnliche Weise zueinander finden.

Fritz Zedler ist ein groß gewachsener Mann,
Passionierter Jäger: Fritz Zedler arbeitete als Förster in den Wäldern des Ahrtals
Fritz Zedler ist ein groß gewachsener Mann,
Im Gesindehaus der Burg Kreuzberg hat Familie Zedler einige Jahre gewohnt
Fritz Zedler ist ein groß gewachsener Mann,
Andächtig: Ein Altar am Wegesrand im Ahrtal. Das Ehepaar Zedler eint auch ihr tiefer Glaube

Fritz Zedler ist ein groß gewachsener Mann, schlank und auch in seinem hohen Alter noch sportlich, nur mit dem Hören hat er einige Probleme. Noch heute gehe er jeden Tag für eine Stunde im Wald spazieren, erzählt er. »Der Wald tut wohl«, sagt er. »Er ist die Bekleidung der Erde.« Es stimmt ihn traurig, wenn er sieht, wie Menschen und Klimawandel dem Forst zusetzen, sagt Fritz Zedler.

Zedler hat der Natur und den Bäumen sein Leben gewidmet. Jahrelang stand er im Dienst des Freiherren von Boeselager. Von seinem Haus aus kann er auf die prächtige Burg des Adligen blicken, die als Wahrzeichen auf einem kleinen Felskegelin Kreuzberg thront. In dem ehemaligen Gesindehaus am Rande des Anwesens hatten die Zedlers mit ihren vier Kindern viele Jahre gewohnt.

»Der Wald hat uns ernährt«

Fritz Zedler
Eine 20 steht groß mittig und das Prozent hochkant rechts

Fritz hatte eine Ausbildung zum Förster gemacht, seine Mutter über Beziehungen Kontakt ins Rheinland geknüpft. Seine Aufgabe war es in erster Linie, das Revier des Adligen zu vermessen, aber auch Kataster zu erstellen und als Treiber die damals noch üblichen Jagdgesellschaften zu begleiten. Die Arbeit sei gerade in den ersten Jahren sehr beschwerlich gewesen, erinnert er sich. Es gab noch keine Wege, Zedler musste sie erst bauen, das Gelände aber war vielerorts unwegsam und steil. Bei einem Unfall brach er sich den Knöchel, die permanente Sonnenstrahlung löste in seinem Gesicht einen Krebs aus, ein Zeckenbiss brachte ihm eine Borreliose ein. Und schon damals hätten Naturkatastrophen dem Wald schwer zugesetzt, gerade die Phasen der Trockenheit seien eine große Herausforderung gewesen, sagt er. Als er nach Kreuzberg kam, musste Zedler zudem Abendkurse für die Weinbauschulung belegen. Später wurde er Geschäftsführer des Waldbauvereins und hat dort die Interessen der privaten Waldbesitzer vertreten.

Das Ahrtal mit seiner Urwüchsigkeit ist ihm in all den Jahren zur Heimat geworden. »Der Wald hat uns ernährt«, sagt Zedler. Damals, nach dem Krieg, als Lebensmittel noch knapp waren, pflückten die Zedlers dort Beeren und sammelten Pilze. Frau Barbara pflanzte im Garten vor dem Haus Kräuter und Gemüse an.

Der Krieg war für alle ein Grauen

Das lange Leben hat die Zedlers gelehrt, mit Krisen umzugehen. Die Schlimmste
hatte beide noch als Teenager ereilt. Im Alter von 17 Jahren wurde Zedler zum Krieg eingezogen und an die Wüstenfront nach Nordafrika geschickt. Barbara wurde zum Arbeitsdienst nach Oberschlesien verbracht, Frühsport um sechs Uhr morgens, dann Rüben ernten oder Kühe auf der Weide hüten. Später musste sie fliehen, kam bei Bekannten in Dresden unter und überlebte dort in Luftschutzkellern die vernichtende Bombardierung der Stadt.

Der Krieg war für alle ein Grauen, auch für Zedlers Eltern. Sechs Kinder hatte die
Mutter zur Welt gebracht, fünf Jungen und ein Mädchen. Vier ihrer Söhne starben im Krieg und auch Fritz, der Jüngste, hatte mit seinem Leben schon abgeschlossen, wie er sagt. Ein Schuss hatte ihn am Bein getroffen, nahezu regungslos lag er irgendwo in Tunesien zwischen den Fronten, eine ganze Nacht lang, Kugeln zischten über ihn hinweg. Dann hörte er plötzlich Stimmen, zwei deutsche Soldaten hatten sich unbewaffnet auf den Weg gemacht, um Verwundete zu suchen. Sie schleppten Zedler in ein Feldlazarett. Später landete er in Kriegsgefangenschaft in Frankreich. Zu wem er denn wolle, hätten ihn seine Bewacher nach der Ankunft im Lager gefragt. Zedler, so erinnert er sich, blickte sich zwischen den Gefangenen um und sagte, »zu dem, der lächelt«. Der Name des freundlich dreinschauenden Mannes war Peter. Und er war Barbaras Bruder. Gemeinsam schrieben sie Postkarten in die Heimat, Fritz ließ stets herzlichste Grüße entbieten. Barbara freute sich über jedes seiner Worte. »Wir liebten uns schon, als ich noch in Frankreich war, obwohl wir uns noch gar nicht richtig kannten«, sagt Zedler auf seinem Sessel und bekommt einen verträumten Blick. »Das war wunderschön.«

Blick von oben auf durch die Flut zerstörte Häuser im Ahrtal
Ruhe nach der Flut: In diesen Häuser stand das Wasser zum Teil bis unters Dach
Durch die Flut zerstörte Brück im Ahrtal
Standhaft und doch zerstört: Eine Brücke im Ahrtal
Junger Mann sitzt mit Hund und Laptop auf dem Schoß auf dem Fußboden in seiner frisch bezogenen Wohnung.

Es sei ein erfülltes Leben, sagen die Zedlers, wenn sie auf die vergangenen 100 Jahre zurückblicken. Sie seien dankbar, dass sie so lange für die Familie da sein konnten. Vier Kinder gingen aus ihrer Ehe hervor, zehn Enkelkinder und acht Urenkel. Natürlich habe es auch im Leben der Zedlers hin und wieder Streit gegeben. Aber wenn es dazu kam, habe man sich immer ruhig und gelassen aussprechen können, sagen sie. Was sie stets zusammenhielt, seien ihr tiefer Glaube und die Liebe zur Natur gewesen.

Sieben Menschen aus Altenahr verloren in jener Nacht ihr Leben, im gesamten Ahrtal waren es 134

Diese Liebe überlebte auch die Nacht auf den 15. Juli. Am Himmel hatte sich ein ungewöhnliches Tiefdruckgebiet zusammengebraut, Meteorologen sprachen vom größten Regenband, das je über Deutschland gesichtet worden sei. Binnen drei Tagen waren an der Ahr mehr als 115 Liter Regen pro Quadratmeter gefallen, sonst sind es in einem durchschnittlichen Juli insgesamt nur knapp 70 Liter. Am späten Nachmittag des 14. Juli erreichte die Flutwelle Zedlers Heimatort. Der Pegel, der sonst bei gerade mal 73 Zentimetern liegt, stieg in Altenahr in nur wenigen Stunden auf zehn Meter an. Treppenstufe um Treppenstufe erklomm das Wasser und füllte in den ufernahen Häusern sogar die Dachböden. Der Strom war längst ausgefallen, die Handynetze zusammengebrochen. Nur mit ihren Kleidern am Leib retteten sich viele der Anwohner auf die Dächer, sendeten sich in der Finsternis mit den Taschenlampen ihrer Handys Lichtsignale, um zu zeigen, dass man nicht allein ist und noch am Leben. Bis zu 13 Stunden mussten die Menschen auf ihren Giebeln ausharren, Frauen, Männer, Kinder, die sich einander festhielten, kaum Essen, kaum Trinken. Sie alle werden später von ihrer Todesangst berichten und von der Panik, das Wasser könnte noch weiter steigen und der Fluss sie einfach mitreißen. Sie werden berichten von den Hilferufen, die im ohrenbetäubenden Lärm der Strömung verhallten. Auch ein Enkel der Zedlers hatte sich mit seiner Lebensgefährtin und den Kindern auf seinem Dach in Sicherheit gebracht. Erst am nächsten Morgen holte sie ein Rettungshubschrauber.

Das Ehepaar Zedler hatte mehr Glück. Dennoch war es auch für Barbara eine unruhige Nacht. Durch den Lärm, den die reißende Ahr verursachte, tat sie kein Auge zu. Der schon schwerhörige Fritz dagegen schlief tief und fest. Selbst am Haus der Zedlers oben auf dem Hügel richtete das Wasser Schaden an: Es war durch das Erdreich in den Keller gesickert, fünf Zentimeter hoch. Unten im Tal aber sah es aus wie im Krieg: Schutt, ausgerissene Bäume, Autowracks, unterspülte Bahngleise, der Geruch von ausgelaufenem Öl. Und es gab Opfer zu beklagen: Sieben Menschen aus Altenahr verloren in jener Nacht ihr Leben, im gesamten Ahrtal waren es 134.

Trotz der Zerstörungen hält die Naturliebe von Fritz und Barbara an

Der Schwiegersohn schlug sich am Tag nach der Flut mehrere Stunden zu Fuß durch den Wald, um bei den Zedlers nach dem Rechten zu sehen. Anders ging es nicht, Straßen und Brücken waren zerstört. Die beiden waren wohlauf, wollten ihr Haus aber zunächst nicht verlassen. Erst zwei Tage später, ohne Wasser und Strom, wurden sie von der Feuerwehr zu einer Sammelstelle gebracht und schließlich von der Familie abgeholt.

Trotz der Zerstörungen hält die Naturliebe von Fritz und Barbara an – denn im Grunde, so sehen es die beiden, waren die Ereignisse mehr Menschenwerk als Naturkatastrophe: »Man hat einfach zu viel Raubbau betrieben, zu viele Flächen besiedelt«, sagt Fritz. »Das war ein großer Fehler.« Hätten sie im Ahrtal und anderswo auf der Welt die Bäume und die Natur geachtet wie einst Fritz als Förster, wäre das Klima besser geschützt worden, wäre diese Nacht wahrscheinlich weniger verhängnisvoll verlaufen.

Seit das Paar zurück in seinem Haus ist, beginnt jeder Tag wieder mit einer Morgenandacht. Wie seit Jahrzehnten lesen die beiden den täglichen Bibelvers aus einem christlichen Kalender. Er schätze an ihr, dass alles, was sie sage, ihre ehrliche Meinung sei und kein Theater. Und sie? Barbara Zedler zeigt eine Glückwunschkarte, die ihr langjähriger Allianz Vertreter ihnen im vergangenen Jahr zum 70. Hochzeitstag überreicht hatte. Darauf steht ein Satz des Schriftstellers Ephraim Kishon: »Hinter jeder langen Ehe stecken immer eine kluge Frau und ein nachsichtiger Mann.« Damit, sagt Barbara Zedler mit einem zufriedenen Lächeln, sei eigentlich alles gesagt.

Gedenktafel an die Flut im Ahrtal
Gedenktafel in Mayschoß: Allein 134 Menschen starben im Ahrtal in den Fluten

Text Christian Parth
Bilder Arne Piepke

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