Kay Tietgen sitzt mit seiner Frau auf einem Sofa. Sie lachen.Kay Tietgen sitzt mit seiner Frau auf einem Sofa. Sie lachen.

10.03.2022

Mein erstes Jahr als Rentner: Ein Rückblick

Vor einem Jahr begleiteten wir Kay Tietgen aus München an seinem letzten Arbeitstag – und an seinem ersten als Rentner. Damals freute er sich auf Ruhe, Museumsbesuche und einen schönen Ruhestand mit seiner Frau. Nun wollten wir wissen, was aus seinen Plänen und Vorstellungen geworden ist.

Als wir uns das letzte Mal gesehen haben, an Ihrem ersten Tag als Rentner, haben Sie uns aus Ihrem Auto zugewunken und sich auf unbestimmte Zeit nach Schweden verabschiedet. Wie geht es Ihnen heute?

Glänzend, blendend sogar! Nach einem Jahr als Rentner kann ich eine erste Bilanz ziehen: Ich habe alles richtig gemacht. Ich hatte mich ja langsam aus dem Berufsleben zurückgezogen. Nach anstrengenden Jahren in der Produktion, mit Schichtdienst ohne Ende, habe ich die letzten Jahre als Haustechniker ausklingen lassen.

Sie haben Körper und Seele darauf vorbereitet, dass es bald gemütlicher wird. Wie kamen Sie eigentlich darauf?

Durch die Beobachtung in meinem Umfeld. Ich übertreibe mal: Menschen, die mit dem Ruhestand abrupt von 100 auf 0 abgebremst haben, sind ein Dreivierteljahr später in die Kiste gesprungen. Also, die sind zwar nicht gestorben, aber denen ging es mental richtig übel. Manche hat das Gefühl wahnsinnig gemacht, von einem Tag auf den anderen nicht mehr gebraucht zu werden. Andere die Langeweile, wenn einem die Tage plötzlich ohne Arbeitsalltag unendlich lang und leer vorkommen. 

Wie vermeiden Sie diese Gefühle?

Ich war vorbereitet. Monate vorher habe ich mich damit arrangiert, dass das Telefon eben nicht mehr fünf, sechs Mal am Tag klingeln wird, sondern nur einmal in der Woche. Ich habe mir Gedanken gemacht, was ich mit meiner zukünftigen Freizeit anstellen möchte.

«Es gibt keinen Grund zur Eile»

Kay Tietgen

Sie hatten sich eine große Museumstour vorgenommen: das Bauhaus-Museum in Dessau, den Louvre in Paris, das Stedelijk Museum in Amsterdam. Wie viele haben Sie schon abgehakt? 

Von diesen großen drei noch keins. Aber das macht nichts. Es gibt keinen Grund zur Eile. Ich brauche Dinge, auf die ich mich freue. Momentan setze ich mich gern morgens hin, überlege mir, wo ich den Tag verbringe möchte, packe meine Kamera ein – ich fotografiere ja hobbymäßig – und setze mich in den Zug. Erst neulich hatte ich einen wunderbaren Tag in Nürnberg. Nach dem Germanischen Nationalmuseum, dem größten Museum für Kulturgeschichte in Deutschland, war ich noch auf dem Reichsparteitagsgelände. Mittelalter, Dreißigjähriger Krieg, Nationalsozialismus und sein Erbe, deutsche Teilung und Einheit. An einem einzigen Tag habe ich mehrere Hundert Jahre deutsche Geschichte erkundet – und deren Zeugnisse mit meiner Kamera dokumentiert. Neben meinen Erinnerungen habe ich meine Fotos und meine Gedanken dazu. Sowas wirkt noch tagelang in mir nach.

Müssen Sie sich überwinden, wenn Sie bei Museen nach dem Rentner-Tarif fragen?

Überhaupt nicht! 

Wenn ich mich richtig erinnere, war Ihre Frau kein großer Museumsfan. 

Diese Ausflüge mache ich für mich allein. Aber das ist in Ordnung. Ich genieße das auch für mich.

Private Einblicke in seinen Ruhestand: Kay Tietgen im Schwedenurlaub

Sie haben ein Leben lang als Alleinversorger das Geld für Ihre Familie verdient. Hat sich das Zusammenleben mit Ihrer Frau verändert, seit Sie so viel zu Hause sind?

Wir haben in unserem Alltag jahrelang ein Stück weit aneinander vorbei gelebt. Ich bei der Arbeit, sie mit den Kindern. Das war unsere Arbeitsteilung. Mit meinem Renteneintritt mussten wir uns daran gewöhnen, dass wir nun eine Menge Zeit zusammen haben. Da hat es anfangs geknirscht. Es verlangt wirklich viel Absprache und gegenseitige Rücksicht, ein schönes Leben gemeinsam zu führen. Und auf beiden Seiten die Einsicht nach einem Streit, dass es vielleicht doch gar nicht so wild war, wie es sich im ersten Moment angefühlt hat.

Was haben Sie noch über sich gelernt?

Mein Leben als Alleinversorger hat dazu geführt, dass ich vieles verpasst habe: die ersten Schritte meiner Tochter, die ersten Worte meines Sohnes. Davon konnte mir meine Frau nur erzählen, wenn ich von der Arbeit kam. Ich spüre, dass ich einen enormen Nachholbedarf habe. Und das große Glück, dass meine Tochter vor einem halben Jahr einen Sohn bekommen hat. Als Opa hole ich vieles nach, was mir früher entgangen ist. Mir wäre das damals nie in den Sinn gekommen, aber mittlerweile verstehe ich, warum heute viele Väter Elternzeit nehmen möchten: um solche Momente live mitzuerleben. 

«Kay, du hast alles richtig gemacht»

Haben Sie jemals an Ihren ehemaligen Kollegen oder den Chef gedacht, der Ihnen an Ihrem letzten Tag mitgab, Sie könnten jederzeit wiederkommen, wenn Sie sich langweilen? 

Neulich habe ich einen früheren Kollegen getroffen. Es hat sich viel verändert. Viele Leute sind gegangen, sie haben andere Stellen gefunden oder sind jetzt in Rente. Verlässlicher Nachwuchs ist nicht gekommen. In dem Gespräch mit ihm erinnerte mich nur noch wenig an die Kollegen und den Job, in dem ich bis vor einem Jahr noch gearbeitet habe. Es war für mich schon erschreckend, wie schnell sich alles dreht. Ich habe nur gedacht: Kay, du hast alles richtig gemacht.

Text Niclas Seydack
Bilder Manuel Nieberle und privat

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