01.07.2021

Gras drüber gewachsen: Geschichten unserer Wiesen

Auf den ersten Blick sieht man hier nur eine Grünfläche – auf den zweiten Blick auch. Interessant wird es erst, wenn man hört, was für Geschichten die folgenden fünf Wiesen zu erzählen haben

Am Kraterrand im Nördlinger Ries in Schwaben

In diese Wiese schlug vor 15 Millionen Jahren ein kilometergroßer Asteroid ein, schleuderte dabei Felstrümmer bis in die heutige Schweiz und hinterließ einen Krater von mehr als 20 Kilometern Durchmesser. Beim Einschlag entstand durch Druck und Hitze ein besonderes Gestein: Suevit oder auch Schwabenstein genannt. Es besteht aus einer bunten Mischung verschiedener Minerale und Gesteine, enthält größere Glaseinschlüsse und manchmal sogar Reste des Meteoriten. Und dazu noch unzählige mikroskopisch kleine Diamanten.

Unberührte Natur: Von den einstigen atomaren Spuren ist hier heute nichts mehr zu sehen

Am Mainufer bei Karlstein in Unterfranken

Auf dieser Wiese begann das deutsche Atomzeitalter, als am 13. November 1960 das Kernkraftwerk Kahl seinen Betrieb aufnahm. Gleichzeitig markiert sie den bislang einzigen Ort der Welt, an dem es gelang, den Standort gleich zweier Atomkraftwerke aufzulösen und ihn bis zur sprichwörtlichen »grünen Wiese« zurückzubauen. Seit 2010 liegt das Gelände brach. Im Wappen Karlsteins erinnern noch drei Atome an die Träume der Nachkriegsgeneration von der Energie der Zukunft. Nach dem Willen des Gemeinderats wird das so bleiben.

Ausgrabungsstätte: Wiesen bewahren viele Geheimnisse – und manchmal sogar archäologische Artefakte

Auf dem Mittelberg bei Nebra in Sachsen-Anhalt

Im Boden dieser Wiese fanden am 4. Juli 1999 zwei Raubgräber die Himmelsscheibe von Nebra. Irrtümlicherweise hielten sie die Scheibe für ein Schild und verkauften sie mit einigen Beifunden für 31.000 DM an einen Hehler. Erst 2002 konnten die Behörden das mindestens 3700 Jahre alte Artefakt bei einem fingierten Kauf konfiszieren. Heute befindet sich die Himmelsscheibe, einer der bedeutendsten archäologischen Funde überhaupt, im Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle. Ihr Versicherungswert liegt bei 100 Millionen Euro.

Geschichtsträchtig: Die durch diese Wiese verlaufende innerdeutsche Grenze forderte zahlreiche Tote

Im Todesstreifen zwischen Zicherie und Böckwitz

Durch diese Wiese verlief bis 1990 die innerdeutsche Grenze und trennte die unmittelbar nebeneinanderliegenden Dörfer Zicherie und Böckwitz. Am 12. Oktober 1961 war hier der erste Mauertote zu beklagen, ein westdeutscher Journalist. »Klein Berlin« war der Spitzname des Doppeldorfs, denn wie in der Hauptstadt stand auch hier eine Mauer. Zusammengewachsen ist das Dorf seit ihrem Fall nicht. Noch immer gibt es zwei Feuerwehren, die von hüben ist drüben nicht zuständig, weil hier nun die Grenze zwischen Niedersachsen und Sachsen­-Anhalt verläuft.

Startbahn: Mit dieser Aussicht startete der letzter Flug eines großen Luftfahrtpioniers

Auf dem Gollenberg bei Rhinow im Havelland

Von dieser Wiese aus startete Otto Lilienthal den letzten seiner ingesamt 2000 Flugversuche. Am 9. August 1896 stürzte der Luftfahrtpionier mit seinem »Normalsegelapparat« aus 15 Metern Höhe ab, weil thermische Aufwinde Turbulenzen erzeugten, die Lilienthal nicht kennen und auch nicht abfangen konnte. Er starb am nächsten Tag in Berlin. Nach heutigen Maßstäben war es ein Pilotenfehler, der zu dem Unfall führte. Ein Nachbau des von Lilienthal konstruierten Gleiters erwies sich bei späteren Versuchen im Windkanal als absolut flugstabil.


Text
  Christian Gottwalt
Foto  Olaf Otto Becker

Das könnte Sie auch interessieren