26.09.2022

Der Wald schweigt nie

Schon vor der Klimakrise war der Wald ein Lieblingsthema deutschsprachiger Schriftsteller. Er wurde literarisch zum Sehnsuchtsort, später zum Erholungsgebiet und ist und bleibt auch heute eine wichtige Ressource. Ein kulturgeschichtlicher Rückblick

Als Ort des Horrors erlebten römische Soldaten im Jahre 9 n. Chr. den Teutoburger Wald. Im Grenzgebiet zwischen dem heutigen Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen soll sich damals die Varusschlacht zugetragen haben, in der das Imperium eine seiner schlimmsten Niederlagen erlitt. Der römische Historiker Cassius Dio beschrieb den Schauplatz wie einen Albtraum: »(…) die Bäume standen so dicht und waren so übergroß, dass die Römer, auch schon ehe die Feinde über sie herfielen, sich, wo nötig, abmühten, die Bäume zu fällen, Wege zu bahnen und Dämme zu bauen. Und wenn dazu noch Regen und Sturm kamen, zerstreuten sie sich noch weiter. Der Boden aber, schlüpfrig geworden um die Wurzeln und Baumstümpfe, machte sie ganz unsicher beim Gehen, und die Kronen der Bäume, abgebrochen und herabgestürzt, brachten sie in Verwirrung.« 

Den Wald als Heimat des Wilden, Unheimlichen und Menschenfeindlichen zu betrachten, blieb fortan ein Leitmotiv der deutschen Kulturgeschichte. Es findet sich in der mittelalterlichen Tristan-Sage und in den Volksmärchen der Gebrüder Grimm wieder. Etwa in der Geschichte von »Hänsel und Gretel«, die sich im Wald verirren und dort an eine Hexe geraten, die den Jungen mästen und aufessen will. Grausamer geht es kaum. 

Früher galt der Wald als wild und unheimlich 

Erst mit der Aufklärung und der Industrialisierung begannen die Menschen, den Wald zu romantisieren. Er entwickelte sich zu einem Sehnsuchtsort. Nachzulesen bei Friedrich Schiller, dessen freiheitsliebende Räuber sich im Wald verstecken. Oder bei Ludwig Tieck, der eines seiner bekanntesten Werke »Waldeinsamkeit« nannte. Oder in der kanonischen Oper »Der Freischütz« von Carl Maria von Weber, in der sich wackere Burschen auf der Hirschjagd beweisen, um ihre Bräute zu beeindrucken. Der deutsche Wald steht in diesen Werken für ein unverfälschtes, naturverbundenes Sein und ist damit auch ein Gegenentwurf zu den künstlich angelegten französischen Parks der Feudalherren.

Im 20. Jahrhundert kommt es in dieser Tradition zu einer fortschreitend verkitschten Wahrnehmung des Waldes – von den Heimatromanen eines Ludwig Ganghofers (»Das Schweigen im Walde«, »Waldrausch«) bis hin zu einer fast esoterisch geprägten Wahrnehmung im 21. Jahrhundert, wo man sich in vierwöchigen Seminaren zum »Kursleiter Waldbaden« ausbilden lassen kann, und wo das 2015 erschienene Sachbuch »Das geheime Leben der Bäume« ein Bestseller wird.

Auf der anderen Seite war der Wald schon immer ökonomisch bedeutsam, Holz ein begehrtes Heiz- und Baumaterial. Und es verwundert nicht, dass die Holzwirtschaft als wissenschaftliche Disziplin von einem Deutschen ins Leben gerufen wurde: Hans Carl von Carlowitz wies in seiner 1713 erschienenen »Sylvicultura oeconomica« bereits auf den zielorientierten und nachhaltigen Umgang mit der Ressource Wald hin.

Heute ist der Wald Erholungsgebiet für Großstädter

Und dann ist da noch der Tourismus als Ergebnis einer zunehmend wohlhabenden städtisch-industriellen Gesellschaft. Egal ob Spreewald, Schwarzwald, Bayerischer Wald oder die Bergwälder der Alpenregion: Sie alle wurden im 20. Jahrhundert zu Erholungsgebieten für gestresste Großstädter, in denen sie ihren Hobbys nachgehen, sei es nun spazieren gehen oder Pilze suchen oder Mountainbiken. Die von Goethe besungene Waldesruh’ sucht mancher vergeblich. 

Fest steht, dass Wälder als Naturraum heute bedroht sind. Das gilt für das Amazonasbecken wie für den Teutoburger Wald. Der jährliche Bericht der Bundesregierung attestierte den heimischen Wäldern 2021 den schlechtesten Zustand seit Beginn der Aufzeichnungen. Die Menschen müssen sich heute weniger vor dem Wald fürchten als vor seinem Verschwinden.

Text Michael Döschner
Bild iStock/Image Source, Max-Martin Bayer
Video Max-Martin Bayer

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