21.02.2024

Zurück zu den Wurzeln: Neue Gedichte über den Wald

Den Bäumen in Deutschland geht es schlecht. Diesem Trauerspiel möchte 1890 digital etwas entgegensetzen: Wir haben Künstlerinnen und Poeten gebeten, den Wald zu würdigen. Ein Vers- und Video-Experiment.

Dichter lieben den Wald. Er verkörpert seit dem Mittelalter das Wilde und Wundersame – einen Sehnsuchtsort, wo Trolle und Wichtel im Wurzelwerk steinalter Baumriesen hausen. Heute geht es dem Wald schlecht. Das stellt ohne jede Romantik der Waldzustandsbericht fest, den die Bundesregierung jährlich herausgibt: 2021 brachte das schlimmste Ergebnis seit Beginn der Aufzeichnungen.

Die Redaktion von 1890 digital hat Musiker und Dichterinnen gebeten, neue Verse über den Wald zu verfassen und vorzutragen. Die daraus entstandenen Texte und Videos sind emotionaler als Amtsberichte. Sie betrauern oder lobpreisen, sind zornig, witzig oder euphorisch – und können durch die Macht des Wortes zum Schutz der Wälder beitragen.

Als nachhaltigem Versicherer liegt der Allianz der Wald besonders am Herzen – er ist ein Ort, der unsere Zukunft lebenswert macht. Ihn zu schützen bedeutet, vorzusorgen.

Irgendwo hier muss sie sein

Zur Person

Mareike Fallwickl  arbeitet als freie Autorin für Verlage, Zeitungen und Zeitschriften. In ihren Büchern, Kurzgeschichten und auf Instagram beschäftigt sich die gebürtige Österreicherin vor allem mit feministischen, queeren und diversen Themen. Am 16. April erscheint ihr neues Buch »Und alle so still«.

Sie haben unsere Schwesterlichkeit vergraben, sie haben sie vergraben im Wald, dort hinten vielleicht oder weiter links, wir wissen es nicht. Sie haben uns die Schwesterlichkeit entrissen, bevor wir sie greifen konnten, bevor wir sie in uns verwurzeln und leben konnten. Sie sind raffiniert und schlau und schnell, wir waren schläfrig und weich. 

Jetzt bleibt uns nur das Suchen. 

Wir schnüffeln an Rinden und Moosen, irgendwo hier muss sie sein. 

Mit entschlossenen Schaufeln sind sie durch die Bäume gehetzt, gesagt haben sie: Ihr seid Feindinnen, merkt es euch, ihr seid Konkurrentinnen, handelt danach, es gibt keine Schwesternschaft, verinnerlicht es. Ein endloses Echo, fast hat es uns zum Platzen gebracht, wie hätten wir einen anderen Gedanken fassen sollen, ein Gefühl oder einen Widerstand. Wir haben ihnen geglaubt. Sie mussten nicht kämpfen gegen uns. Das haben wir selbst erledigt. 

Wir waren Körper, gezwungen, an der Aufmerksamkeit vorbei zu existieren, minimiert, um in die unterste Schublade zu passen oder in ein Schaufelgrab, wir wurden angeschaut, immer wurden wir angeschaut und nie gesehen. Wir waren brav, wir sind mitgelaufen. 

Und plötzlich gestolpert. 

Denn da war dieser Schmerz.

Er hat sich durchgebohrt, jahrhundertealt und gallenbitter. Er hat uns wachgerüttelt, als wir es uns gemütlich gemacht hatten in den Lügen, den flockigen, süßen, weil es so einfach ist, zu hassen, jede Frau, jede einzelne Frau und dadurch auch uns selbst, gewürgt hat uns der Schmerz, herausgebrochen ist er aus unseren Bäuchen, in die Knie sind wir gegangen. 

So viel mehr, hat der Schmerz geschrien, so viel mehr könnt ihr sein, vereint und verschlungen, zusammen und mächtig. Da haben wir begriffen, was fehlt, warum es hohl brennt in uns. 

Und jetzt sind wir hier. Sie jagen uns, sie sind schlau und schnell. Wir schnüffeln, wir suchen, die Himbeergeister lachen uns aus, aber freundlich. Unsere Schwesterlichkeit wurde vergraben, wir haben nicht gelernt, sie zu erkennen, denn wie sie aussieht, wissen wir nicht. 

Vielleicht müssen wir etwas aus dem Waldboden ziehen, egal was, und sagen: das ist sie, wir haben sie, und dann erfinden wir unsere Geschichte neu, erzählen sie ab da anders. Erzählen sie so, wie sie hätte sein sollen, was spielt es für eine Rolle, solange wir sie gemeinsam schreiben. 

wie konjugiert man waldsterben?

Waldpoet Dalibor Marković

Waldpoet Dalibor Markovic

Dalibor Marković ist Schriftsteller und Lautpoet. Im Zuge seiner Recherchen für seinen zuletzt erschienenen Roman »Pappel« hat er sich intensiv mit dem Wald beschäftigt. Das Gedicht »wie konjugiert man waldsterben?« verbindet Text mit rhythmischen Beatbox-Elementen. Dalibor Marković lebt in Frankfurt am Main und Mexico-City.

angenommen
ein baum
hätte einen account
bei den üblichen plattformen 

das profilbild wäre hinten himmelblau mit einem grünlichen blatt vorne
die kurzbeschreibung wäre
lebensform komma bedrohte
darunter herz und sektkorkensymbole 

der baum würde täglich posten 
unterschiedliche selfie-posen manchmal den stamm im fokus oder
oben die krone 

bilder mit farbfilter manchmal auch ohne 
habt ihr mehr an den fotos interesse oder
wollt ihr was wissen über photosynthese wäre eine der umfragen zwischen den pics 

follower antworten und wischen nach links
videos hätten eindeutig die meisten likes
wieder so eine bläuliche meise am zweig am
besten gefilmt an schönen sommertagen
das erweckte gefühle in den kommentaren

»oh my god«
… 
»bester tag«
… 
»I like trees«
… 
»nice leaves«
… 

»dios mio«
… 
»link in bio«

»beautiful«

»you single?«
… 

»cooles zeug«
… 
»bei dir läuft«

»respect«

»please act«

würde der baum eines Tages darunter schreiben
»bitte handelt«
würde erscheinen bei übersetzung anzeigen
mit dem daumen drücken auf eine app reicht nicht aus um etwas zu verändern

auch die daumen zu drücken und zu denken
wird sich schon jemand kümmern um die wälder 
die letzten posts nun waren gesetzt in großbuchstaben
der text war sozusagen 
übersetzt in
folgende sprachen 

I’m the tree 
that you need 
he she it as well indeed 

ja sam stablo
ti me trebaš stalno 
on ona ono isto stvarno 

Übersetzung:
ich bin ein baum
den du brauchst
er sie es
ganz sicher auch 

ich der baum
den du brauchst
er sie es ganz sicher auch 

we are woods
soon you should 
help before they’re gone for good 

mi smo šuma
vi svi skupa pomozite da oni zive sutra 

Übersetzung: 
wir sind wald
ihr müsst mal helfen denn sie sterben bald

wir sind wald
ihr müsst mal 
helfen denn
sie sterben bald

nicht mehr

Waldpoet Christian Schmidt

Christian Schmidt schreibt und fotografiert, um aufzuräumen – das Nutzlose kommt weg, das Essenzielle an die richtigen Stellen. Zuletzt erschien sein Roman »Die schönste Frau der Welt neben mir« im Omnino Verlag (Berlin).

wir sehen den Wald
vor lauter Bäumen nicht,
weil uns Lärm, Dreck, Profit erstickt

wir sehen ihn erst,
wenn es Bäume
nicht mehr

Abenteuer Wald

Waldpoet Robert Schütze

Robert »BOB« Schütze ist Gründungsmitglied und Bassist der seit 1997 bestehenden Berliner Kultband MiA. Den Wald hat der Musiker in der Pandemie noch einmal neu kennen- und schätzen gelernt – und seine Erfahrungen lyrisch verarbeitet. »Abenteuer Wald« ist sein erstes veröffentlichtes Gedicht.

Nicht Ruhe nicht Geborgenheit 

Ist was ich spüre hier im Wald. 

Es ist die Lust auf Abenteuer. 

Sein Anblick entfacht in mir ein Feuer.

Will ihn durchdringen und erkunden,

Mir Wege bahnen, Pfaden folgen, 

Auf immer neuen Runden. 

Wähne mich in einem anderen Leben, 

Fernab von Großstadt, dieser Zeit.

Von Fantasie getrieben 

Zu immer neuem Spiel bereit.

Entdecke Wurzeln einer Sehnsucht, 

Die nur hier erblüht.

Tief verzweigte Triebe,

Hier leb’ ich sie aus, wie es mir beliebt.

Lass meinen Blick nun schweifen

Durch Kulisse und Gebiet.

Seh’ neben Vielfalt und Schönheiten

ein Parcours der vor mir liegt.

Die Äste einer Buche 

Bilden ein’ Pfad ins Wipfelzelt

Ständig auf der Suche 

Nach dem Kitzel in meiner Welt.

Hier oben sitz’ ich nun und lausche,

Sauge ein und atme aus.

Das Intro startet – Blätterrauschen.

Dann schwillt es an und baut sich auf.

Gib mir Amsel, gib mir Drossel, 

Gib mir Fink und gib mir Star,

Kann ja doch keinen unterscheiden 

Alles nur eine Vogelschar.

Doch klingt ihr Lied in meinen Ohren 

Wie durchdacht und komponiert. 

Alles fügt sich hitverdächtig

Von DJ Nature produziert.

Genug der Rast, des Träumens,

Noch einmal kräftig inhalieren, 

dann geht’s auf zu neuen Runden.

Die nächste Challenge wartet hier.

Aus dem Zyklus: kippelemente

Waldpoetin Alisha Gamisch 

Alisha Gamisch, geboren 1990 in Tegernsee, studierte in München und London Anglistik und Germanistik. Sie ist Lyrikerin,  Prosaautorin und Lehrerin. 2020 erschien ihr Band »Lustdorf« im Verlagshaus Berlin, welcher vom Haus für Poesie zu den besten Lyrikdebüts 2020 gewählt wurde. Jüngst veröffentlichte sie den Gedichtzyklus »kippelemente« in der Anthologie Blickwinkel: Momento Futuro des Goethe-Instituts Mexiko. Daraus stammt die Basis ihres Texts für das 1890-digital-Projekt. Der Zyklus setzt sich mit Naturbegegnungen und dem Gefühl der Bedrohung durch den Klimawandel auseinander.

I.

was gehen wir spazieren in den frühling
der nicht kommt
was erwarten wir uns?

dass bäume geheimnisse ausplaudern
wie neugierige väter
dass wege sich zu rundgängen beugen

was soll dieses vertrauen in eine wiederkehr
dieses verlassen darauf, dass moos sich um uns kümmern wird

wer sagt, dass im gehölz kein arm liegt
kein altes wägelchen in dem der biber sich verschanzt hat

wir wissen doch nicht, ob da hinten am waldrand etwas sickert
wir atmen hier ohne zu filtern was

dass es keine rehe mehr gibt, nur noch hirsche
wundert uns nicht

dass durchleuchtete spinnweben austrocknen und bröckeln

dass käfer sich in rinden einkleiden
stört uns erst, wenn sie die farbe wechseln

wir dachten
alles fällt und wächst wieder nach oben
wer fällt, fällt weich und vermodert

da wussten wir noch nicht
dass die bäume längst begonnen haben
einander zu stützen

dass ganzheit begonnen hat
sich zu verästeln

dass zapfen sich weigern zu samen
wie kämpferische gebärmütter

der boden immer schneller luft ausstößt
bis er kippt

Und ich bin der Wald

Waldpoetin Sabine Magnet

Sabine Magnet ist Lyrikerin, Autorin und Journalistin. 2012 erschien ihr erster Gedichtband »Poesía Clandestina«. 2017 startete sie POETRY TO GO, eine Poesieperformance, bei der sie Gedichte auf Bestellung verfasst – aus dem Stegreif und auf ihrer Schreibmaschine getippt. In der Weiterentwicklung entsteht daraus immer wieder Konzeptkunst, die in Einzel- und Gruppenausstellungen gezeigt wird. 2020 veröffentlichte sie das Kinderbuch »Der Gagahof« sowie den Gedichtband »Poetry to go«. Das Gedicht »Ich bin der Wald« schrieb sie exklusiv für 1890 digital. Sabine Magnet lebt in München.

Das Grün umschließt mich, hüllt mich ein in vielberauschte Stille,

Moos federt meinen schweren Kopf und Blätter legen sich auf meine Lider,

Ich öffne meine Lippen, sauge ein und inhaliere Energie und Fülle,

durch meine Lungen weht das Leben und es hallt in meinem ganzen Körper wider.

Und meine Sohlen öffnen sich und Wurzeln graben daraus in die Erde

Und mein Gesicht dreht sich ganz langsam und bestimmt in Richtung Licht.

Und zwischen Rinden, Nadeln, Farnen löse ich mich auf und werde ein Teil des Ganzen.

Und ich bin der Wald, der spricht.

Und ich erzähle von den alten Narben und zeige hustend meine neuen Wunden,

Ein Schatten meiner selbst, ich glühe, überall mein Blut und mein Gewebe.

Ich bin der Wald und ich bin du, wir zwei sind untrennbar verbunden

Und du und alles andere kann nur dann leben, wenn ich lebe.

Text Detlef Dreßlein, Robert Schütze, Alisha Gamisch, Sabine Magnet
Bilder Max-Martin Bayer, Ole Zimmer, Gyöngyi Tasi

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