08.04.2022

Ein ganz neuer Mensch: Vier fangen neu an

Manchmal will, kann oder muss man noch einmal ganz von vorn beginnen. So wie diese vier Menschen, deren Leben eine spektakuläre Wendung genommen hat
Tobias Rau, 40 Jahre, lebte, bis er 27 Jahre alt war, den Traum vom Fußballprofi. Heute ist er glücklich als Sport- und Biologielehrer

Vom Fußballstar zum Superlehrer

»Während ich noch zur Schule ging, hatte ich das Glück, Profifußballer zu werden. Mein Abitur habe ich trotzdem gemacht, aber den Plan, fürs Lehramt zu studieren, nicht weiter verfolgt. Mit dem FC Bayern wurde ich Deutscher Meister, gewann den DFB-Pokal und spielte sogar für die Nationalmannschaft.

»Ich bin von einem Tag auf den anderen ins echte Leben eingetaucht und habe mich sofort wohlgefühlt«

Tobias Rau

Irgendwann hatte ich nicht mehr genug Feuer in mir, ich war ständig verletzt. Also beschloss ich, mit dem Spielen aufzuhören. Eine Karriere im Profigeschäft, etwa als Trainer, kam für mich nicht infrage. Ich wollte etwas machen, für das ich mich auch in 30 Jahren noch begeistern kann, und schrieb mich für das Lehramtsstudium ein. Meine Familie und Freunde haben meine Entscheidung sofort verstanden, viele meiner Fußballkumpels nicht. Aussteigen aus dem Geschäft, studieren, einer von vielen sein – für die meisten ist das unvorstellbar und führt zu einer Krise. So ging es mir nicht.
Ich bin von einem Tag auf den anderen ins echte Leben eingetaucht und habe mich sofort wohlgefühlt. Im Kopf war ich immer mehr Lehrer als Fußballer. In meiner Freizeit spiele ich nach wie vor Fußball, in der Kreisliga. Der Sport wird für mich immer wichtig bleiben und das Gefühl, in ein ausverkauftes Stadion einzulaufen, werde ich nie vergessen. Aber das Leben und die Strukturen im Profigeschäft vermisse ich nicht.«

Birgitta Schulze van Loon, 60 Jahre, arbeitete 20 Jahre lang als Unternehmensberaterin. Heute produziert sie ihre eigenen Obstbrände

   
Von  der Beraterin zur Schnapsbrennerin

»Mein Leben als Unternehmensberaterin war bequem. Ich konnte viel von zu Hause arbeiten und mich nebenbei um die Kinder kümmern. Gleichzeitig bedeutete der Job: keine neuen Herausforderungen. Alltagstrott. Als ich nach 20 Jahren das Unternehmen verließ, war klar: Ich muss etwas anderes machen. Etwas, für das ich mich wirklich interessiere. Bei mir waren das Obstbrände. Im Restaurant habe ich immer zuerst die letzte Seite der Speisekarte gelesen. Und ich habe Destillier-Kurse besucht. Der Schritt zu einer richtigen Ausbildung zum Schnapsbrenner war da nicht mehr weit. Das Programm richtete sich an Landwirte, aber ich habe nicht locker gelassen, bis ich aufgenommen wurde – als einziger Fischkopp unter bayerischen Obstbauern. Während der Ausbildung habe ich beschlossen, mich selbstständig zu machen. Im Norden gibt es kaum Obstbrennereien, das war die Chance, die ich genutzt habe.

»Es war die richtige Entscheidung«

Birgitta Schulze van Loon

Eigentlich vermisse ich nur eines: den Feierabend. Früher konnte ich das Büro verlassen und abschalten. Das geht als Selbstständige nicht. Dafür kann ich alles selbst machen: die Entwürfe, die Produktion, die Vermarktung. Selbst wenn ich mit Gummistiefeln in einem Berg Aprikosen stehe und Angst habe, dass sich durch die Hitze Bakterien entwickeln, die den ganzen Schnaps verderben, weiß ich: Es war die richtige Entscheidung.«

    
Von der Pfarrerin zum Pfarrer

»Es war tatsächlich schon im Kindergarten, als ich zum ersten Mal merkte, dass mit mir etwas nicht stimmt. Alle Mädchen sollten ihre Puppen mitbringen, nur ich hatte keine. Ich bin in den 1970er-Jahren in Franken aufgewachsen, das war keine Umgebung, in der es erlaubt war, anders zu sein. Ich habe immer darüber nachgedacht, wer ich bin und wer ich sein möchte. Irgendwann begann ich, mir einzugestehen, dass ich im falschen Körper geboren wurde. Der Entschluss, meine Transidentität öffentlich zu machen und mich anpassen zu lassen, war ein schleichender Prozess. Immer wieder habe ich mich gefragt: Will ich weiter gegen mich leben? Gegen meinen Körper und dieses Gefühl?

»Jetzt kann ich sagen: Es geht mir gut«

Sebastian Wolfrum

Bei der Entscheidung musste ich außerdem bedenken, dass ich als Pfarrer nicht nur die Verantwortung für mich selbst trage, sondern auch für die 3000 Mitglieder meiner Gemeinde. Als mir im Sommer 2017 Vertreter der Landeskirche versicherten, dass sie hinter mir stehen, konnte ich mich auf den Weg machen. Nach diesem Gespräch war ich zum ersten Mal in meinem Leben glücklich. Einen Tag vor dem 500-jährigen Reformationsjubiläum habe ich meine Entscheidung im Anschluss an einen Gottesdienst öffentlich gemacht. Einige wussten es bereits, bei den anderen fielen die Reaktionen fast immer positiv aus. Jetzt kann ich sagen: Es geht mir gut.«

Pfarrer Sebastian Wolfrum, 50 Jahre, lebte bis vor Kurzem als Silke Wolfrum. Am Ende des Lutherjahres fand er den Mut, es allen zu sagen
Heidi Benneckenstein, 29 Jahre, vertrat früher rechtes Gedankengut. Heute hilft sie ehrenamtlich Neonazis beim Ausstieg aus der Szene

   
Von der Extremistin zur Erzieherin

»Wenn ich an meine Jugend zurückdenke, schäme ich mich. Die autoritäre Erziehung und die nationalsozialistischen Ansichten meines Vaters haben meine gesamte Kindheit geprägt, als Jugendliche bin ich selbst in die Neonazi-Szene abgerutscht. Ich habe vielen Menschen misstraut, viele gehasst und war grundsätzlich negativ eingestellt. Mit 15 Jahren begannen meine Zweifel an der Ideologie. In meinem heutigen Ehemann fand ich einen Verbündeten, mit dem ich gemeinsam aus diesem Leben fliehen wollte. Allerdings verlangt der Ausstieg aus der Neonazi-Szene viel Kraft. Weil er uns nicht gleich gelungen ist, holten wir uns Hilfe von der Aussteigerorganisation Exit. Dort besprachen wir als Erstes die Sicherheitslage: Wir mussten uns Lügen ausdenken, um nicht von anderen Neonazis verfolgt oder bedroht zu werden. Anfangs bekamen wir Polizeischutz.

»Wenn ich heute anderen von meiner Jugend erzähle, sind die meisten überrascht«

Heidi Benneckenstein

Mittlerweile können wir ein normales Leben führen. Ich habe eine Ausbildung zur Erzieherin gemacht, mein Mann betreut hauptberuflich andere Aussteiger. Mein altes Leben wird mich immer begleiten – was in der Kindheit passiert ist, prägt ja das ganze Leben.

Wenn ich heute anderen von meiner Jugend erzähle, sind die meisten überrascht. Was sie hören, sagen viele, passe gar nicht zu der Person, die ich heute bin. Das ist für mich das schönste Kompliment.«

Text Saskia Trucks
Bild Wolfgang Stahr, Dominik Asbach, Charlotte Schreiber, Dominik Pietsch

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