07.07.2022

Der erste Tag als Rentner: Freiheit oder Leere?

Kay Tietgen hat 48 Jahre für andere gearbeitet. Damit ist jetzt Schluss. Wir haben den 63-Jährigen an diesem Wendepunkt seines Lebens begleitet. Eine Geschichte von Abschied und Aufbruch

Die Sonne strahlt über München, das erste Mal seit Wochen in diesem trüben Pandemie-Winter, als Kay Tietgen mit der Straßenbahn zum Hauptquartier seiner Firma fährt, um sein Berufsleben zu beenden. Er ist eine Dreiviertelstunde zu früh dran. Gleich wird der 63-Jährige in der Personalabteilung sein Diensthandy abgeben und dafür sein Arbeitszeugnis und die Abmeldung von der Sozialversicherung entgegennehmen. Ein paar nette Worte wird er noch hören, und anschließend, nach wenigen Minuten, steht Kay Tietgen vor dem Gebäude und fragt sich: »Das war’s schon?« Kein Getöse, keine Sektkorken oder goldene Ehrennadel, keine großen Reden und wegen der Pandemie nicht einmal ein letzter Handschlag – Kay Tietgen ist gerade spektakulär unspektakulär in den Ruhestand gegangen. Und jetzt? Er schaut in die Sonne und sagt: »Warme Dusche, kaltes Bier.« Er lächelt.

Heute, an diesem sonnigen Tag Ende Januar 2021, endet ein bewegtes Arbeitsleben, das bis zu diesem Tag 48 Jahre angedauert hat. Kay Tietgen, geboren 1957 in Kiel, lernte Maschinenschlosser, hatte einen Stand auf dem Wochenmarkt, zog vom Norden Deutschlands in den Süden, nach München. Dort stellte er Fotofilme und Röntgengeräte her und reparierte Panzer. Zuletzt hielt er Türen, Garagen, Heizungen sowie Klima- und Bewässerungsanlagen in Stand. Wenn, wie man so sagt, Arbeit das halbe Leben ist, wie viel ist dann die Rente? Ein Viertel Leben vielleicht? Durchschnittlich erhalten Menschen noch 20 Jahre ihres Lebens Rentenzahlungen, Frauen etwas länger, Männer etwas kürzer. Wie ist das, wenn plötzlich der Alltag weg ist, dieser vorgegebene Takt von Arbeit und Freizeit und gelegentlichen Urlauben, der gleichzeitig einengen und Halt geben kann? Wie füllt man die unweigerlich entstehende Lücke?

»Jetzt sind wir dran, meine Frau und ich«

Kay Tietgen, Neu-Rentner

Kay Tietgen hat angefangen, über diese Fragen nachzudenken, als er 2017 bei der Rentenversicherung nachgefragt hat, wann er ohne Abschläge in Rente gehen kann. In vier Jahren, sagten sie ihm, um exakt zu sein: am 1. Februar 2021. Tietgen hatte zu diesem Zeitpunkt schon 44 Jahre gearbeitet, immer körperlich, es hat seine Spuren hinterlassen: Er hat neue Gelenke in den Knien. Tietgen begann, die verbliebene Zeit runterzuzählen – aus Vorfreude. Erst die Jahre, dann Monate und Wochen. Schließlich zählte er die Tage. Heute ist er da: der letzte Tag. Er hat sich überlegt, dass er am Morgen noch einmal mit seinen Kollegen frühstücken möchte, mit denen er gemeinsam für die Instandhaltung von drei Gebäuden in der Münchner Innenstadt verantwortlich ist. Tietgen besorgt Butterbrezeln, Stullen mit Wurst und Käse und packt sie in Tüten, die er mit ihren Namen beschriftet.

Um kurz nach neun Uhr kommen die Kollegen, um Lebewohl zu sagen. Sie tauschen noch einmal Geschichten aus, die sie in den vergangenen Jahren zusammen erlebt haben: als ein Kollege sämtliche Sicherungen geröstet hat oder als es einen Wasserschaden gab und sie durch das Gebäude waten mussten. Am Ende des Frühstücks bekommt Tietgen von seinem Chef noch einen kleinen Geschenkkorb überreicht: zwei Flaschen Sekt, dazu Schokolade, hübsch eingeschlagen und mit einer Schleife drum. Er macht schnell noch ein Beweisfoto mit seinem Smartphone. Später wird er sagen: »Das hat mich vom Hocker gehauen.«  

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Kay Tietgen sitzt mit seiner Frau auf einem Sofa. Sie lachen.

»Er war ein Guter«, sagt der Chef. Sie werden ihn vermissen. Aber bevor er sie verlassen wird, muss Tietgen noch einmal seine Runde drehen: drei Gebäude, gut 30 Räume, in denen er die Anzeigen von Bewässerungsanlagen prüft, auch mal ein Ohr an ein Rohr presst, um zu hören, ob da drinnen alles gut ist, oder mit der Handfläche fühlt, ob ein Notstromaggregat warm genug und damit funktionstüchtig ist. Wenn er an die Rente denkt, ist das eine schöne Vorstellung, sagt Tietgen. Gerade seien »die letzten Kinder versorgt«, also in Job oder Ausbildung. »Jetzt«, sagt er, »sind wir dran, meine Frau und ich.«

Er hat ein Leben lang Vollzeit gearbeitet, als Alleinversorger für die sechs Kinder, die er und seine Frau Karola bekamen: »Da blieb wenig Zeit für uns.« Frei sein, ausschlafen, wann er möchte, im Urlaub bleiben, wie lange er möchte, »nicht mehr betteln müssen beim Chef« – darauf freut er sich. Aber er kennt aus seinem Umfeld auch die andere Seite des Renteneintritts, die gefährliche: »Es gibt Menschen, denen ist die Rente so langweilig geworden, dass sie –«, er macht eine Pause. »Na ja: vier Mann, vier Ecken.« Natürlich wird nicht jeder vor Langeweile in einem Sarg enden, aber Kay Tietgen ist eben ein Mann, der gern überdeutlich wird, wenn er einen Punkt machen will: Die Ruhe in der Rente kann zur Belastung werden. Wie also kriegt er den Tag voll, der sich vorher durch Dienstpläne allein gefüllt hat?

»Ich habe in Sachen Hobbys vorgesorgt. Langweilig wird mir nicht«

Er liebt Campingurlaube mit seiner Frau, besonders in Skandinavien: Norwegen, Schweden, Island. Er fotografiert gern und interessiert sich für Kunst. Er liebt die expressionistischen Bilder von Wassily Kandinsky, der in München berühmt wurde. In der Rente will er in Museen gehen, die er schon lange auf seiner Liste hat: das Bauhaus Museum in Dessau, den Louvre in Paris, das Stedelijk Museum in Amsterdam. Er fasst es so zusammen: »Ich habe in Sachen Hobbys vorgesorgt. Langweilig wird mir nicht.« Und es stimmt ja. Wer sich nicht vorbereitet auf das Ende einer Karriere, fällt oft in ein Loch: Das Ende überstehen nur die, die sich vorbereiten. So wie Kay Tietgen.

Deshalb hat er sich auch diesen Job zum Schluss bewusst ausgewählt. Er wollte nicht mehr in die Produktion, keinen Schichtdienst mehr, nicht mehr unterwegs sein »wie ein Irrer«. Er wollte einen Ausklang. Nicht, weil er gemütlich oder gar faul geworden wäre. Er hat vorausschauend geplant: »Ein kompletter und plötzlicher Stopp zum Renteneinstieg – das ist gefährlich.« Das Ende, sagt er, es darf kein Schlag sein, es muss sanft kommen, um einen nicht zu übermannen.

Und doch: In der Nacht vor seinem letzten Arbeitstag hat Tietgen schlecht geschlafen, sagt er. Jede Stunde sei er wach gewesen, eine »innerliche Aufregung« habe er gespürt, denn: »Es geht wirklich zu Ende.« Während des letzten Rundgangs durch die Gebäude in der Münchner Innenstadt sagt er mehrfach: »Es ist echt mein letzter Tag.« Jedes Mal klingt es fast ungläubig. So als müsse er sich selbst überreden, es zu glauben. Am Ende seines Rundgangs, bevor er den Weg zu seinem Termin in der Personalabteilung antritt, muss er noch seinen riesigen Schlüsselbund abgeben. Er klimpert aufgeregt damit, während er auf einen Fahrstuhl wartet. Als er ihn zurückgibt, sagt der Chef zu ihm: »Du kannst jederzeit wiederkommen, wenn dir langweilig wird.« Da lacht Tietgen nur.

»In Schweden kommt höchstens mal ein Elch vorbei und wundert sich, was wir da wollen«

Der nächste Tag, ein Samstag, seit heute ist Kay Tietgen einer der rund 18 Millionen Rentner in Deutschland. Ein paar Wochen vorher hatte er gesagt, für diesen Tag nehme er sich gar nichts vor außer Ausschlafen. Daraus wurde nichts. Schon um 7:30 Uhr ist er angezogen – er trägt ein Shirt mit der Aufschrift: »Ich werde nicht älter, ich werde besser« – und hat den Frühstückstisch gedeckt. Er und seine Frau wollen später mit dem Campingwagen bis nach Hamburg hoch, Pausen werden sie nur zum Tanken machen. Am darauffolgenden Tag geht es rauf auf die Fähre nach Schweden. Wer Kay Tietgen zu Hause besucht, fühlt sich sofort nach Skandinavien versetzt. Da ist die Tapete in getäfelter Holzoptik. Da sind kindergroße Holztrolle und handgeschnitzte Dalapferdchen. Kay Tietgen und seine Frau Karola sagen, sie haben all das auf ihren Reisen angeschafft, als Mitbringsel, weil ihnen die Kultur Skandinaviens so gefällt – quasi als Verbeugung, die sie mit nach Hause nehmen. Sie waren sogar sechs Wochen in einer Sprachschule in Schweden, die Grundlagen beherrschen sie. Und dann ist da noch der Traum vom eigenen Häuschen, das sie sich bei diesem Trip ansehen wollen. Karola Tietgen hat über das Internet eine Maklerin in Schweden kontaktiert und dabei immer wieder bei ihrem Mann gefragt, welche Renovierungsarbeiten er übernehmen könnte. Es waren so viele, dass er sie irgendwann zurückfragte: »Muss ich ein neues Haus bauen?«  

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Sie sehnen sich nach der Ruhe in Schweden: »Da kommt höchstens mal ein Elch vorbei und wundert sich, was wir da wollen«, sagt Tietgen. Einen besseren Ort für die entspannten Jahre der Rente können sie sich nicht ausmalen. Gepackt haben sie schon am Vortag, jetzt verstauen sie nur das Nötigste im Camper, der in der Tiefgarage parkt: Bettwäsche, Zahnbürste, so was. Kay Tietgen fährt, Karola sitzt daneben. Langsam rollen sie aus der Tiefgarage, und dann am ersten Tag in Freiheit, nach 48 Jahren Arbeit, setzt Kay Tietgen den Blinker und biegt ab: in ein neues Leben. Als Rentner.

Text                    Niclas Seydack
Fotos                 Manuel Nieberle

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