Müdigkeit, Konzentrationsprobleme, Gewichtszunahme – häufig steckt ein instabiler Blutzuckerspiegel dahinter, und zwar lange bevor Diabetes entsteht. Ernährungsmediziner Matthias Riedl erklärt, wie wir unseren Stoffwechsel mit gezielten Änderungen wieder ins Gleichgewicht bringen können.
Zur Person

Dr. Matthias Riedl, Jahrgang 1962, ist ärztlicher Direktor am Medicum Hamburg, Europas größtem Zentrum für Ernährung und Diabetes. Er zählt zu den renommiertesten Ernährungsmedizinern Deutschlands, hat die App »myFoodDoctor« entwickelt und mehr als 30 Bücher über gesunde Ernährung geschrieben.

Sein jüngstes Werk »Der Glukose-Masterplan« hilft Menschen dabei, das eigene Glukose-Management in nur vier Wochen zu verbessern, um fitter, schlanker und gesünder zu werden.
Wer wenige Regeln beachtet, kann die Blutzuckerkurve flach halten, ohne zu verzichten. Alltagstaugliche Rezepte und zahlreiche nützliche Tipps unterstützen das Programm.
Warum Glukose unser Wohlbefinden so stark beeinflusst
Glukose ist die wichtigste Energiequelle unseres Körpers. Sie entsteht, wenn wir kohlenhydrathaltige Speisen wie Brot, Obst oder Nudeln essen und gelangt über das Blut in die Zellen. Der Blutzuckerspiegel zeigt an, wie viel davon im Blut zirkuliert. Gerät er aus dem Gleichgewicht, spüren wir das schnell: Müdigkeit, Konzentrationsprobleme, Stimmungsschwankungen, Heißhungerattacken oder unerklärliche Gewichtszunahme können frühe Warnzeichen sein. Bleiben diese Schwankungen dauerhaft bestehen, steigt das Risiko für Prädiabetes und Typ-2-Diabetes deutlich.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schätzt, dass inzwischen fast jede:r neunte Erwachsene weltweit an Diabetes erkrankt ist. Auch in Deutschland steigen die Zahlen – insbesondere bei Kindern und Jugendlichen. Ernährungsmediziner Matthias Riedl – bekannt aus dem NDR-Podcast »Die Ernährungs-Docs« – kritisiert, dass Prävention und Aufklärung nach wie vor nicht den Stellenwert haben, den sie angesichts dieser Entwicklung dringend brauchen.
Wir haben mit ihm darüber gesprochen, wie Ernährung, Bewegung, Schlaf und Stressmanagement den Blutzuckerspiegel positiv beeinflussen und warum oft schon kleine Änderungen im Alltag spürbare Verbesserungen bringen können.
1. Ernährung: Die richtige Reihenfolge macht den Unterschied
Viele Menschen greifen zu vermeintlich gesunden Lebensmitteln – und leiden trotzdem unter Energietiefs, Heißhunger oder Übergewicht. Der Grund liegt oft nicht im Was, sondern im Wie. Eine zentrale Erkenntnis der modernen Ernährungsmedizin: Die Reihenfolge der Nahrungsaufnahme beeinflusst die Blutzuckerantwort maßgeblich.
Matthias Riedl empfiehlt eine klare Struktur: Ballaststoffe zuerst, dann Eiweiß und Fett, zum Schluss Kohlenhydrate. So steigt der Blutzuckerspiegel nach dem Essen deutlich langsamer an. »Die Reihenfolge der Nahrungsaufnahme ist ein Gamechanger. Wer zuerst einen Salat oder Gemüse und Eiweiß isst, dann erst die Kohlenhydrate, hat deutlich geringere Blutzuckerspitzen – das wirkt fast wie ein Medikament.«
Aber warum ist das so? Ballaststoffe sorgen für eine langsamere Magenentleerung, Eiweiß regt die Ausschüttung körpereigener Darmhormone wie GLP-1 an. »Letzteres ist quasi unsere natürliche Abnehmspritze«, so der Ernährungsmediziner. Beides gemeinsam senkt die Glukoseantwort nachweislich.
Auch kleine Tricks wie ein Glas Wasser mit Apfelessig vor dem Essen oder Zimt in der Nachspeise können unterstützend wirken. »Zimt hat eine nachgewiesene blutzuckersenkende Wirkung. Und auch Essig kann – vor allem bei kohlenhydratreichen Mahlzeiten – den Anstieg der Glukose im Blut deutlich abflachen.«
Welche Ernährung eignet sich besonders?
Pflanzenbetonte Ernährungsformen mit guten Fetten, also ungesättigten Fettsäuren, und ballaststoffreichen Lebensmitteln stabilisieren den Blutzucker. Hochverarbeitete Produkte, raffinierter Zucker und Weißmehlprodukte fördern hingegen Blutzuckerspitzen. »Hülsenfrüchte, Nüsse, Gemüse und Vollkornprodukte sind unsere stärksten Verbündeten in der Prävention und in der Therapie«, so Riedl. Besonders Hülsenfrüchte seien »Multitalente«, da sie gleichzeitig Eiweiß, Ballaststoffe und sekundäre Pflanzenstoffe enthalten, die gezielt gegen Insulinresistenz wirken.
Tierische Produkte sollten eher ergänzend auf dem Speiseplan stehen: »300 Gramm Fleisch pro Woche sind genug. Besser ist weißes Fleisch oder Fisch – oder eben pflanzliche Alternativen.«
Snacks und Fastenpausen
Ein weiterer Gamechanger: nicht ständig essen. Jede Zwischenmahlzeit lässt den Blutzucker erneut ansteigen. Stattdessen empfehlen viele Expert:innen längere Essenspausen. Allerdings ist dies nicht für alle geeignet: Menschen mit Migräne, Untergewicht oder hormoneller Dysbalance sowie Schwangere sollten nicht fasten. Andere können vorsichtig testen, was ihnen gut tut. »Jeder Snack bedeutet Arbeit für die Bauchspeicheldrüse. Wir sehen in Studien, dass nur drei Tage hintereinander, an denen wir Junkfood essen, die Leber verfetten und die Insulinwirkung im Gehirn stören können. Die natürliche Sättigung funktioniert dann nicht mehr richtig.«

2. Bewegung: Der natürliche Blutzucker-Senker
Bewegung ist eine der wirksamsten natürlichen Methoden zur Senkung des Blutzuckerspiegels. Schon ein kurzer Spaziergang nach dem Essen kann ausreichen. Wer direkt nach dem Essen zehn bis 15 Minuten aktiv ist, unterstützt den Körper bei der Insulinantwort – ganz ohne Medikamente.
»Bewegung nach dem Essen wirkt direkt auf den Blutzuckerspiegel. Der Zucker, der gerade im Blut zirkuliert, kann so durch die Muskulatur aufgenommen werden«, erklärt Riedl.
Wissenschaftliche Übersichtsarbeiten zeigen: Bereits zehn Minuten lockere Bewegung nach der Mahlzeit oder auch kurze Workouts können den Blutzucker merklich senken. Der ideale Zeitpunkt dafür liegt etwa eine Viertelstunde nach dem Essen.
Auch Alltagsbewegung wie Treppensteigen, Hausarbeit oder ein Gang zum Supermarkt zeigt Wirkung. »Die berühmten 10.000 Schritte sind keine magische Zahl. Wichtig ist: regelmäßig aktiv sein.« Wer dabei moderate Ausdauer mit gezieltem Krafttraining kombiniert, aktiviert die Muskulatur, verbessert die Insulinsensitivität und unterstützt den Stoffwechsel nachhaltig.
3. Schlaf: Der unterschätzte Stoffwechsel-Regulator
Guter Schlaf ist viel mehr als Erholung: Er ist ein stiller Regulator unserer Hormone und des Blutzuckers. Schon wenige Nächte mit zu wenig Schlaf reichen aus, um die Insulinempfindlichkeit des Körpers deutlich zu verschlechtern. Besonders kritisch ist dabei nicht nur die Dauer, sondern auch die Qualität: Der sogenannte Tiefschlaf (Slow-Wave-Sleep) ist entscheidend für die hormonelle Regeneration.
»In der Nacht werden Reparaturprozesse angestoßen und auch die Blutzuckerregulation wird neu kalibriert. Wer schlecht schläft, hat am nächsten Morgen oft um zehn bis 20 Prozent höhere Zuckerwerte. Das erleben wir in der Praxis immer wieder«, erklärt Riedl.
Wenn wir schlecht schlafen, gerät das feine Gleichgewicht aus der Spur. Der Cortisolspiegel steigt, das Hungerhormon Ghrelin wird vermehrt ausgeschüttet und plötzlich ist der Appetit da, obwohl wir eigentlich keinen Energiebedarf haben. Gleichzeitig reagiert der Körper schlechter auf Insulin und Glukose bleibt länger im Blut.
Schon einfache Maßnahmen wie regelmäßige Schlafenszeiten, ein dunkles, ruhiges Schlafzimmer und der Verzicht auf schwere Mahlzeiten am späten Abend helfen, die Schlafqualität zu verbessern. »Ich empfehle, nach 14 Uhr keinen Kaffee mehr zu trinken und abends auf große Mengen Rohkost oder fettiges Essen zu verzichten. Auch blaues Licht und späte, belastende Gespräche sollte man meiden.«

4. Stressmanagement: Cortisol gezielt senken
Stress lässt sich zwar nicht immer vermeiden, aber steuern. Und das lohnt sich. Denn chronischer Stress treibt den Blutzucker in die Höhe, auch wenn Ernährung und Bewegung stimmen. Das Hormon Cortisol ist dabei der Hauptakteur: Es sorgt dafür, dass der Körper selbst Zucker produziert. Diesen Prozess nennt man Glukoneogenese. Dabei stellt die Leber Glukose aus Eiweißen oder anderen Bausteinen her, um in Stresssituationen schnell Energie bereitzustellen.
»Chronischer Stress ist ein echter Diabetestreiber«, warnt Riedl. »Das Hormon Cortisol lässt den Blutzucker ansteigen – unabhängig davon, was man isst. Gleichzeitig blockiert es die Wirkung des Insulins.«
Das ist kurzfristig sinnvoll, kann aber bei Dauerstress zum Problem werden: Die Glukose bleibt im Blut, weil gleichzeitig die Insulinwirkung gehemmt wird. Die Folge: ein dauerhaft erhöhter Blutzuckerspiegel.
Umso wichtiger ist es, sich kleine, aber wirksame Ruheinseln im Alltag zu schaffen. Studien zeigen, dass schon wenige Minuten bewusste Atemübungen helfen, das vegetative Nervensystem zu beruhigen. Spaziergänge in der Natur, soziale Kontakte und digitale Pausen unterstützen zusätzlich.
Fazit: Kleine Schritte, große Wirkung
Ein stabiler Blutzucker ist kein Hexenwerk – aber er erfordert Aufmerksamkeit. Wer versteht, wie stark Glukose unsere Energie, Konzentration, Stimmung und Gesundheit beeinflusst, kann gezielt an den vier wichtigsten Stellschrauben drehen: Ernährung, Bewegung, Schlaf und Stress.
Zum Schluss gibt Riedl folgenden Rat: »Wenn Sie nur eine Sache ändern können, dann fangen Sie bei der Ernährung an. Denn darüber steuern wir 70 Prozent unseres Gesundheitszustands.« Und wer es ganz einfach halten möchte, könne schon mit einem Salat zum Mittag- oder Abendessen viel bewirken – am besten kombiniert mit einer guten Eiweißquelle. »Das wäre ein Riesenschritt«, so Riedl.
Bitte beachten Sie, dass dieser Beitrag keine ärztliche Beratung ersetzt. Bei gesundheitlichen Beschwerden oder konkretem Verdacht auf eine Stoffwechselerkrankung wenden Sie sich direkt an eine Ärztin oder einen Arzt.
Text Margret Meincken
Foto Andreas Sibler