In Bremervörde verkehrt die erste wasserstoffbetriebene Passagierzugflotte der Welt. Von Anfang an dabei: Christian Glauner, der Lokführer 3.0 – und die Allianz als Versicherer nachhaltiger Hochtechnologie.

Es ist 09:30 Uhr am Bahnhof von Bremervörde, einem Städtchen mit 15 000 Einwohner:innen in Niedersachsen. Die Luft ist kühl, es riecht nach Frühling und Meer, obwohl es noch rund 45 Kilometer bis zur Nordsee sind. Ab und zu blitzt die Sonne durch die Wolken, die sich langsam lichten und einen schönen Tag versprechen. Dies ist keine Insel, auch zwei Berge sind nirgends in Sicht, aber die Szenerie wirkt idyllisch wie auf Lummerland. Auf einem der beiden Gleise steht ein weiß-blauer Zug mit gelben Türen, der auf den ersten Blick gewöhnlich wirkt. Es ist wenig los am Bahnsteig. Nur Christian Glauner bringt mit seiner blauen Uniform und der orangefarbenen Warnweste mit der Aufschrift »evb« Bewegung ins Bild.
Glauner ist der Lokführer des Zuges, der in die Zukunft weist: Das Fahrzeug gehört zur ersten wasserstoffbetriebenen Passagierzugflotte der Welt. Bei genauerem Betrachten verrät die Lackierung über einigen Schiebetüren, dass es sich um einen besonderen Zug handelt: Erkennbar wird ein Muster aus weißen »H«- und »O«-Symbolen, den chemischen Zeichen für Wasserstoff und Sauerstoff. Seit August 2022 fahren 14 der Hightech-Triebwagen samt Waggons im Stundentakt von hier aus nach Bremerhaven und Cuxhaven. Und Glauner ist von Anfang an dabei. Seit 2007 arbeitet der 44-Jährige für den Betreiber der Flotte, die Eisenbahnen und Verkehrsbetriebe Elbe-Weser, kurz: evb. Zu Beginn seiner Karriere steuerte er noch Dieselfahrzeuge, deren Motoren tonnenweise Ruß und CO₂ in die Atmosphäre pusteten. Heute sitzt er täglich an den Schalthebeln der Energie- und Verkehrswende.
Glauner, der einen – wie alle hier im Norden – mit einem lockeren »Moin« begrüßt und von seinen Kolleg:innen »Chrischi« genannt wird, sieht mit seinen kurzen, hellen Haaren, der schmalen Brille und den leuchtenden blauen Augen zwar nicht aus wie Lukas, der Lokomotivführer aus »Jim Knopf«. Dennoch erinnert die Leidenschaft, mit der er seinem Beruf nachgeht, an die Kindergeschichte. Sein Triebwagen heißt nicht »Emma«, wie das alte, dampfende Gefährt aus Michael Endes Erzählung, sondern der Zug trägt den offiziellen Namen »Coradia iLint«.
»Ich war der erste Lokführer, der die Prototypen 2018 fahren durfte«, erzählt der Mann, der seine Karriere als Maler und Lackierer begann und nun seit fast 20 Jahren Passagiere von A nach B bringt und Teamleiter der Triebfahrzeugführer:innen ist. »Früher habe ich noch das Brummen des Motors und das Schalten des Automatikgetriebes gehört. Heute höre ich bei offenem Fenster höchstens das Surren der Brennstoffzellen«, berichtet Glauner, der von der Technologie Wasserstoff überzeugt ist. »Das ist schon Hightech und definitiv die Zukunft.« Aus dem »Coradia iLint« entweicht nur sauberer Wasserdampf. Statt des Zischens, Schnaubens und Quietschens einer Eisenbahn vergangener Tage gleitet der Zug fast lautlos dahin. Und anstelle des Kohlegeruchs riecht man hier: nichts.
Die Bürger:innen von Bremervörde spüren den Unterschied. »Früher, als noch Dieselzüge fuhren, war es deutlich lauter«, erzählt eine Passagierin, die im Zug Richtung Bremerhaven unterwegs ist. »Jetzt ist es viel angenehmer – sowohl im Zug als auch, wenn er an unserem Haus vorbeifährt.«




»Coradia iLint« ist ein Zug des französischen Herstellers Alstom, der im niedersächsischen Salzgitter gebaut wird und Brennstoffzellen der kanadischen Tochterfirma des US-Unternehmens Cummins verwendet – ein Beispiel dafür, wie saubere Spitzentechnologie zur Linderung eines globalen Problems durch internationale Zusammenarbeit verhilft. »iLint« bedeutet dabei »intelligenter und leichter innovativer Nahverkehrstriebwagen«. Die Technik ist ähnlich komplex wie die Namensgebung. Jeder Zug ist ein zweiteiliges Fahrzeug mit zwei redundanten Wasserstoffantriebssystemen – zwei Tanks, zwei Brennstoffzellen, zwei Batterien und zwei Elektromotoren. Falls ein System ausfällt, ist der Zug mit der anderen Sektion immer noch fahrbar. Die Wasserstofftanks und die Brennstoffzellen befinden sich auf dem Dach, die Batterien und die Motoren auf der Unterseite.
Die Hauptenergie für den Antrieb wird aus einer 800-Volt-Batterie, auch Akku genannt, gewonnen. Diese Energie wird an den Elektromotor weitergeleitet, der die Räder des Zuges in Bewegung setzt. Ein kastenartiges Gerät unter dem Wagenboden, der Frequenzumrichter, regelt die Frequenz und Spannung der Stromzufuhr in den Motor und ermöglicht ein gleichmäßiges Dahingleiten. Geladen wird die Batterie durch das System der Wasserstofftank-Brennstoffzellen auf dem Dach. Der Wasserstoff wird aus dem Tank in die Brennstoffzelle geleitet und reagiert dort mit dem Sauerstoff aus der Umgebungsluft. Dabei entstehen elektrische Energie und als Nebenprodukt Wasserdampf. Die elektrische Energie wird in die Batterie geleitet und lädt sie auf.
Wenn der Wasserstoff fast verbraucht ist, steuert Glauner sein Fahrzeug zur ersten Zug-Wasserstofftankstelle der Welt. Die Anlage steht rund fünf Fahrminuten vom Bremervörder Bahnhof entfernt. Hier lagert grauer Wasserstoff, ein Abfallprodukt aus der chemischen Industrie, in Hochdrucktanks, die je 1800 Kilogramm Wasserstoff fassen. In den Behältern herrscht ein Druck von 500 Bar. Zum Vergleich: In einem prall gefüllten Autoreifen sind es rund zwei Bar. Wasserstoff ist ein voluminöses Gas, das ohne Druck zu viel Platz bräuchte.
»Die Technologie ist wirklich sicher«
Christian Glauner, Lokführer der »Coradia iLint«
Um nachzufüllen, steigt Glauner aus, meldet sich mit seiner Tankkarte an, nimmt einen speziellen Schlauch aus der Halterung der Anlage und steckt ihn in den Tankstutzen des Zuges. Er drückt den Startknopf – und über den Hochdruckanschluss strömt Wasserstoff in die Behälter des Triebwagens. Volltanken dauert zwischen 20 und 60 Minuten. »Wenn es kälter ist, geht es schneller, da sich der Wasserstoff dann komprimiert«, erklärt der Lokführer. Obwohl Glauner noch aus Knallgas-Experimenten im Chemieunterricht weiß, wie heftig Wasserstoff und Sauerstoff reagieren können, macht er sich keine Sorgen um seine Unversehrtheit: »Die Technologie ist wirklich sicher«, sagt er.
Ähnlich sieht das auch Julian Emrich von der Allianz Esa. Als Underwriter begleitete er das Projekt von Beginn an und war dafür verantwortlich, Risiken einzuschätzen, zu bewerten und zu entscheiden, ob die Allianz Esa die evb als Betreiber der Wasserstoffzugflotte versichern kann – und will.
»Jede neue Technologie bringt Herausforderungen mit sich«, sagt Emrich. Vor allem das Feuerrisiko stand im Fokus. »Doch das Risiko ist überschaubar, da sich die Hochdrucktanks ja auf dem Dach des Zuges befinden. Wasserstoff ist extrem leicht – sollte es zu einem Leck kommen, verflüchtigt sich das Gas sofort nach oben, ohne sich gefährlich anzusammeln. Das war eine Meisterleistung der Ingenieure«, erklärt er.
Neben dem Feuerrisiko analysierte die Allianz Esa auch weitere typische Risiken von Schienenfahrzeugen, wie Unfälle, Kollisionen, Entgleisungen sowie Schäden an Motor oder Batterie. Emrich bewertete mit dem zuständigen Ingenieur diese Risiken als vergleichbar mit den herkömmlicher Züge, die bereits von der Allianz Esa versichert werden.
Damit war die Entscheidung getroffen, die weltweit erste Wasserstoffzugflotte zu versichern. Seit der Inbetriebnahme 2022 gab es keinen Schaden im Zusammenhang mit der Wasserstofftechnologie. »Es macht mich glücklich, dass wir als Allianz Esa den Mut hatten, Neues zu wagen und unsere Kunden zu begleiten, anstatt aus Angst zu zögern«, sagt Emrich.
Auch Ulrich Stephan, Firmen- und Maklervertriebsvorstand der Allianz Versicherungs-AG, unterstützte das Projekt von Beginn an: »Wir wollen der Nummer-eins-Versicherer der Energie- und Verkehrswende sein«, sagt er. »Dafür versichern wir innovative Technik, die in der Praxis noch nicht jahrzehntelang erprobt ist. Indem wir Betreibern Schutz bieten, ermöglichen wir, dass sich Deutschland als nachhaltiger Industriestandort weiterentwickelt. Gerade der Wasserstofftechnologie kommt auf dem Weg zur Klimaneutralität eine Schlüsselrolle zu. Wir wollen helfen, diesen Weg zu ebnen.«



Zugreisen sind grundsätzlich klimafreundlich – insbesondere auf elektrifizierten Strecken. Doch in Deutschland sind bislang nur 62 Prozent des Bundesschienennetzes elektrifiziert, und im Netz der Deutschen Bahn waren 2024 noch immer 1117 Dieseltriebzüge im Einsatz. Diese verursachen deutlich höhere Emissionen als Elektrozüge oder wasserstoffbetriebene Züge: Laut einer Studie von Alstom könnte der Wasserstoffzug »Coradia iLint« jährlich etwa 4400 Tonnen CO₂ und 1,6 Millionen Liter Diesel einsparen, wenn er Dieselzüge vollständig ersetzen würde.
Ein zentraler Unterstützer der Innovation ist auch Bremervördes Bürgermeister Michael Hannebacher. Sein Büro befindet sich im Rathaus der Stadt – einem roten Backsteinbau im Zentrum, rund zehn Gehminuten vom Bahnhof entfernt. Hannebacher trägt einen blau karierten Anzug. Er empfängt in einem Ambiente, das von üppigen Pflanzen, großen Glasfenstern und warmen Holztönen geprägt ist. »Wir sind stolz darauf, die weltweit erste Wasserstoffzugflotte im Linienverkehr zu haben. Für Bremervörde ist das eine durchweg positive Entwicklung«, erklärt der 59-Jährige.
»Wir wollen künftig noch mehr Wasserstoffzüge einsetzen«
Michael Hannebacher, Bürgermeister von Bremervörde
Laut Hannebacher gingen bei der evb seither deutlich mehr Bewerbungen ein. Neue Arbeitsplätze seien entstanden, und natürlich habe sich die Mobilität in der Region verbessert – insbesondere für Pendler:innen, die nun klimafreundlicher unterwegs seien. Und: Bremervörde sei zu einem internationalen Anlaufpunkt geworden. »Vor allem aus Asien reisen Expert:innen an, um sich über die Technologie auszutauschen«, berichtet der parteilose Bürgermeister.
Für die Zukunft verfolgt Hannebacher ein klares Ziel: »Wir wollen künftig noch mehr Wasserstoffzüge einsetzen.« Anders als Alfons der Viertel-vor-Zwölfte, der König von Lummerland, möchte der Bürgermeister von Bremervörde seine Züge keinesfalls über das Meer schwimmen lassen und für den heimischen Betrieb verlieren.
Im Führerstand des »Coradia iLint« sitzt Lokführer Glauner nun in gewohnter Position auf seinem Platz. Die vielen Knöpfe, Hebel und Displays lassen das Cockpit wie ein Raumschiff wirken. Hier, wo Glauner vor ein paar Jahren noch die Drehzahlen von Dieselmotoren überprüfte, checkt er heute Druck, Temperaturen und Batteriestände. Ein kleiner Ruck, leises Surren – der Zug setzt sich in Bewegung. Überraschend weich beschleunigt er über die Schienen.
»Die Wasserstofftechnik entwickelt sich weiter und wir Lokführer müssen immer auf dem neuesten Stand bleiben«, sagt Glauner und blickt nach vorne. Die Landschaft zieht vorbei – grün, weit und flach. In unregelmäßigen Abständen und fast bis zum Horizont sind am Himmel die Flügel von Windrädern zu sehen – ein weiteres Zeichen für die Energiewende. »Aber eines ändert sich nie«, sagt Glauner, »egal ob Kohle, Diesel oder Wasserstoff: Als Lokführer musst du die Strecke immer im Blick behalten.« So war es schon bei Lukas in »Jim Knopf« – und so bleibt es auch in Zukunft.
Text Julia Anna Fink
Fotos Hanna Lenz