Spontan, unvorbereitet und voller Leidenschaft: Franz Xaver Gernstl bereist seit vier Jahrzehnten die Welt und dreht fesselnde Reportagen. Im Interview berichtet er über fehlende Wurstbuden, widerspenstige Schneeketten und warum Filmemachen richtig harte Arbeit ist
Zur Person
Franz Xaver Gernstl ist Dokumentarfilmer und Produzent. Für seine Reportagereihe »Gernstl unterwegs« geht er seit 40 Jahren meist spontan auf Menschen zu. Am 5. Oktober erscheint mit seinem neuen Kinofilm »Gernstls Reisen – Auf der Suche nach irgendwas« ein Zusammenschnitt aus vier Jahrzehnten Archivmaterial und Interviews mit den drei Filmemachern, die sein Sohn Jonas Gernstl geführt hat. Franz X. Gernstl wohnt in München.
Das Besondere an Ihren Reportagen ist die Spontaneität. Wie viel planen Sie vor einem Dreh wirklich, wie viel überlassen Sie dem Zufall?
Ein Teil unserer Geschichten ist recherchiert, aber ich versuche, die Leute, die ich interviewen möchte, vorher möglichst nicht zu informieren. Denn wenn ich sage, dass wir in 14 Tagen zum Drehen vorbeikommen, werden sie nervös, schlafen schlecht und überlegen sich genau, was sie sagen möchten. Ich kann mich an folgende Situation erinnern: Wir sind zu einem Bauern mit einem besonderen landwirtschaftlichen Betrieb gefahren. Das Treffen war ausgemacht, und als wir ankamen, stand die Bäuerin im schicken Dirndlg’wand und mit frisch gemachten Haaren im Kuhstall. Sie gab zwar eine gute Figur ab, aber nicht die authentische, die wir gern gehabt hätten. Daher funktioniert das Spontane viel besser. Im Idealfall fahren wir die Straßen entlang und halten nach jemandem Ausschau, der interessant sein könnte. Ich sehe den Leuten schon an der Nase an, ob sie etwas zu erzählen haben oder nicht. Manchmal überfallen wir die Menschen regelrecht. Klingt ein bisschen blöd, aber es ist die einzige Chance, richtig ins wahre Leben einzutauchen.
Haben Sie jemals eine Reise unternommen, die von Beginn an unter keinem guten Stern stand?
Ja, natürlich. In jungen Jahren hatten wir mal die Idee, eine Sendung über Wurstbuden zu drehen. Im Norden sind das die besten Orte, wo man mit Leuten ins Gespräch kommen kann. Wir wollten dann in Franken drehen und stellten fest, dass es dort gar keine Wurstbuden gibt. Wir haben also durchaus schon weniger erfolgreiche Reisen unternommen. Aber nach wie vor ist es so: Sobald wir einen größeren Plan machen, geht etwas schief. Deshalb bereiten wir uns so wenig wie möglich vor.
Haben Sie schon viele Pannen auf den Reisen erlebt?
Ja, wir sind oft gern abseits der Straßen unterwegs und es kommt häufiger vor, dass wir irgendwo stecken bleiben. Am Dachstein hat es mal furchtbar geschneit und wir sind die Straße nicht hochgekommen. Die Schneeketten wollten einfach nicht über die Reifen. Nach einer halben Stunde stellten wir fest, dass es zwei Paar Schneeketten im Auto gab. Als wir die anderen dann endlich nach einer weiteren halben Stunde angelegt hatten, kam das Räumfahrzeug und fegte die Straße frei. Also haben wir die Ketten wieder abgemacht. Mit solchen Situationen haben wir uns angefreundet: Die gehören irgendwie zum Abenteuer dazu, wenn man so unterwegs ist wie wir. Filmemachen ist kein Zuckerschlecken. Es passiert immer irgendwas.
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Worin genau liegt da der Reiz? Ich freue mich immer, abends im Hotelzimmer das gesammelte Material anzuschauen und zu sehen, dass wirklich gute Geschichten dabei sind. Es ist immer wieder spannend, nach einem Monat harter Arbeit, 14 Tagen Dreharbeiten und 14 Tagen im Schneideraum, immer noch nicht zu wissen, wie der Film letztlich aussehen wird. Doch am Ende wird alles gut. Und wenn dann noch jemand sagt: »Hey, es ist großartig geworden«, ist das wirklich der beste Lohn für all die Mühe und Anstrengung.
Welches Erlebnis gehört zu den kuriosesten in den letzten 40 Jahren? Da fällt mir der Dreh auf der Schwäbischen Alb ein. Wir fuhren in ein Dorf und sahen, dass dort die Wiese brannte. Ich fragte einen Mann in der Nähe, was denn da los sei. Er stand nur da und schwieg. Wir standen sicher fünf Minuten neben ihm. Er sprach kein Wort und lief irgendwann einfach davon. Das war ziemlich unangenehm. Ich weiß bis heute nicht, warum er nicht mit mir reden wollte.
Gab es auch mal Situationen, in denen Sie den Dialekt Ihrer Gesprächspartner nicht verstehen konnten? Direkt nach der Wiedervereinigung sind wir nach Dresden gefahren. Die Sachsen haben einen Dialekt gesprochen, den ich nur bei ganz langsamem Reden verstehen konnte. Die Kommunikation war schwierig. Denn selbst wenn ich es dann endlich verstand, hieß das ja noch lange nicht, dass es den Fernsehzuschauern auch so ging. Mittlerweile hat sich das deutlich gebessert. Wir sind 30 Jahre später erneut dort hingefahren und können uns jetzt ganz normal unterhalten.
Treffen Sie Ihre Interviewpartner nur einmal oder gab es mit einer Person mehrere Begegnungen?
In 40 Jahren habe ich mehr als 2000 Menschen getroffen. In der Reihe »Zeitreisen« haben wir einige von ihnen noch einmal besucht, um zu sehen, was aus ihnen geworden ist. In Kiel trafen wir mal einen Mann, der jahrzehntelang an seiner Hochseejacht gebastelt hatte. Sie war sein ganzer Stolz und er wollte sie seinen Kindern vererben. Es gab 14 Schlafplätze auf dem Schiff! Als wir ihn 30 Jahre später noch mal trafen, lag er im Sterben. Sein Plan war leider nicht aufgegangen: Das Schiff war zweimal abgesoffen.
Hatten Sie mal eine brenzlige Situation auf einer Reise?
Vor ein paar Jahren haben wir in Watts gedreht, einem Wohnbezirk in Los Angeles. Da sollte es die beste Burgerbude von ganz Kalifornien geben. Der Burger war so groß wie ein Suppenteller – mit allem drauf, was man sich so vorstellen kann. Daraus haben wir eine nette Reportage gemacht. Als wir dem Hotelier später erzählten, wo wir gedreht hatten, war er entsetzt. LA Watts ist scheinbar das übelste Gangsterviertel von Los Angeles. Er meinte, man könne da ohne Security eigentlich gar nicht drehen. Wenn wir das gewusst hätten, hätten wir es nicht gemacht. Aber wir hatten damals keine Angst – und dadurch eine schöne Geschichte.
Sie sind auf der ganzen Welt unterwegs. Treffen Sie vor Ihren Reisen besondere Sicherheitsvorkehrungen?
Wenn ich im Ausland unterwegs bin, habe ich natürlich die notwendigen Impfungen, um einreisen zu dürfen. Ansonsten habe ich ganz wenige Versicherungen. Privat habe ich eine Haftpflicht- und eine Krankenversicherung, das war’s. Wenn wir zu einem Dreh fahren, gibt es natürlich spezielle Versicherungen, da geht es um viel Geld. Es gibt zum Beispiel die Ausfallversicherung für den Fall, dass wir nicht drehen können oder ich ein Problem mit meiner Stimme habe. Falls der Film kaputtgeht, verloren oder gestohlen werden sollte, haben wir eine Materialversicherung. Und natürlich auch noch eine Unfallversicherung.
Seit 40 Jahren reisen Sie jetzt schon mit der Kamera durch die Welt. Das Jubiläum war nun Anlass für Ihren neuen Film. Dessen Untertitel heißt: »Auf der Suche nach irgendwas«. Was meinen Sie damit?
Wir haben 2006 schon mal einen Film gemacht über die ersten 23 Jahre unseres Tuns. Da hieß der Film »Gernstls Reisen – auf der Suche nach dem Glück«. Der Film ist im Kino gut gelaufen, doch die Sache mit dem Glück ist uns mittlerweile ein bisschen suspekt. Das Glück ist ein flüchtiger Zustand. »Die Suche nach irgendwas« ist eigentlich eine Hymne auf das ziellose Reisen, das heißt, man reist um des Reisens willen. Ich habe mal bei einem Bauernhof im Chiemgau ein kleines Schild gesehen, auf dem stand: »Das Ziel ist im Weg«. Eigentlich heißt das Sprichwort ja: »Der Weg ist das Ziel«. Der Bauer erklärte mir damals, dass er früher immer nur dem Ziel gefolgt wäre und gar nicht mehr mitbekommen hätte, was links und rechts des Weges war. Deshalb haben wir für uns beschlossen, dass wir eigentlich nichts mehr wirklich suchen wollen, sondern lieber irgendwas finden möchten. Ich glaube ohnehin, dass das Leben eine Aneinanderreihung von Zufällen ist. Die Kunst ist doch, sich nicht davon ängstigen zu lassen, sondern die Zufälle als schöne Ereignisse zu betrachten und daraus etwas zu machen.
Text Maria Dünninger
Fotos Dominik Osswald, Philipp Thurmaier/Alpenrepublik, Andrea Thiele, Alpenrepublik Filmverleih