19.12.2022

Merkwürdige Gewohnheit: Gewinn durch Verzicht

Sechs Wochen ohne Coffee to go, Straßenbahnticket und Onlineshopping – der Weg zur Hölle ist bekanntlich mit guten Vorsätzen gepflastert. Was man sich beim Konsumfasten sparen kann und wie es gelingt, durchzuhalten. Ein Selbstversuch

Wissen Sie, wie man 9,95 Euro ganz einfach sparen kann? Ich auch nicht. Also, theoretisch schon: Man gehe in einen Laden, nehme einen beliebigen Gegenstand zu diesem Preis in die Hand – und lege ihn zurück. In meinem Fall handelt es sich dabei um ein Paar glitzernde Ohrringe aus grünem Plastik im Weihnachtsbaumformat. Ich stehe im Laden und kann mich nicht entscheiden. Mitnehmen oder zurücklegen? Die Antwort ist eigentlich klar, denn: Wer braucht schon Ohrringe im Christbaumlook? Eben. Die Saison, in der ich sie tragen kann, ist fast schon zu Ende. Außerdem wollte ich etwas ganz anderes besorgen. Katzenfutter – in der Zoohandlung. Warum fällt es mir dann so schwer, die Teile liegen zu lassen?

Der Weg zur Hölle ist bekanntlich mit guten Vorsätzen gepflastert. Diese sind für viele Menschen zu Neujahr ein großes Thema – und ein paar Tage oder Wochen später noch einmal. Dann nämlich, wenn sie ihre neuen Gewohnheiten wieder aufgeben. Wenn man der Wissenschaft glaubt, geht es dabei vor allem ums Durchhalten, denn: 60 Tage dauert es laut Studien, bis man eine neue Gewohnheit verinnerlicht hat – oder eine alte abgelegt. Ich möchte wissen, ob das stimmt und mache daher einen Selbstversuch. Was ich ändern möchte: weniger Geld für unnötige Dinge ausgeben und die Summe sparen.

Sechs Wochen lang, so der Plan, verzichte ich auf unnötige Ausgaben. Es geht mir außerdem darum, die Sachen zu nutzen, die ich bereits besitze – ungelesene Bücher, Mehl, Zucker und Hülsenfrüchte aus dem Vorratsschrank oder ungetragene, aber neue Kleidungsstücke, an denen manchmal noch das Etikett baumelt. Die größte Herausforderung, ich ahne es: Auf Impulskäufe möchte ich verzichten. Allzu oft verdaddele ich Zeit beim Onlineshopping und lege Dinge in virtuelle Warenkörbe, nur einen Klick entfernt von sinnlosem Konsum.

Zur Person

Sandra Michel_Artikel_Konsumfasten

Sandra Michel war als Journalistin im Lifestyle-Segment lange damit beschäftigt, Menschen zu mehr Konsum anzuregen. Häufig landeten dabei auch Artikel in ihrem eigenen Warenkorb. Heute beschäftigt sie sich beruflich öfter mit der Frage, wie eine stabile Altersvorsorge gelingt. Dass Konsum dabei auch hier eine wichtige Rolle spielt, ist klar: Gewinn entsteht durch Verzicht.

Ich kaufe, also bin ich

Mit meinem Hang zur Verschwendung bin ich in Deutschland offenbar nicht die Einzige: Laut Statistischem Bundesamt sind die privaten Konsumausgaben in Deutschland in den vergangenen 30 Jahren ständig gestiegen. Betrugen die Konsumausgaben in Privathaushalten 1991 noch 867 Milliarden Euro, sind es mittlerweile 1,72 Billionen. Kein Wunder, wenn man dem Konsumforscher Frank Trentmann glaubt. Er ist Autor des Buches »Kreislauf der Dinge« und vertritt die Meinung, dass Menschen sich auch über ihren Besitz definieren: »Ohne Gegenstände wären wir nur halb Mensch«, sagte der Historiker in einem Radiointerview. Konsum erlaube Menschen, ihre Persönlichkeit zu entwickeln. Sag mir, was du kaufst, und ich sage dir, wer du bist? Im Umkehrschluss kann das heißen: Auch etwas nicht zu kaufen, ist eine Entscheidung, mit der ich meine Persönlichkeit ausdrücken kann.

Der Gedanke gefällt mir. Denn seien wir mal ehrlich: Weniger zu kaufen schadet selten.  Am wenigsten der Umwelt. Laut der Studie »Klimaneutral leben in Berlin« entfallen in Deutschland durchschnittlich 4,4 Tonnen jährlich auf den Konsum – das sind 38 Prozent unseres CO2-Fußabdrucks. An einer nachhaltigen Einstellung zu Konsum möchte ich deshalb arbeiten. Theoretisch bin ich überzeugt, in der Praxis wird sich zeigen, wie oft ich scheitern werde.

Verzicht auf Coffee to go spart 500 Euro im Jahr 

Dabei bin ich bei kleinen Umstellungen durchaus erfolgreich: Ich nehme morgens inzwischen routiniert das Fahrrad für die Fahrt ins Büro statt in die Trambahn zu steigen und ein Ticket zu lösen. Weil ich an drei Tagen der Woche im Homeoffice arbeite, spare ich mir so viermal den Betrag von 3,70 Euro. Nach sechs Wochen habe ich 88,80 Euro gespart. Auch die Sache mit dem Essen klappt prima: Statt Coffee to go im Einwegbecher fülle ich zu Hause meinen Thermobecher, packe eine Portion Müsli und eine Lunchbox mit Linseneintopf oder Rohkost ein.

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Frauen sorgen fürs Alter vor

Das Sparpotenzial ist größer als ich vermutet hätte: Im Schnitt geben Menschen in Deutschland 500 Euro im Jahr für Coffee to go aus, wie eine Dozentin der Verbraucherzentrale im kostenlosen Onlineseminar  »Spartipps in Krisenzeiten« bestätigt. Bei mir liegt der gesparte Betrag nach sechs Wochen à zwei Bürotagen pro Woche bei 202,80 Euro, denn für mein Lunch to go gebe ich zweimal pro Woche etwa 11 Euro aus – womit ich leicht unter dem Durchschnittswert liege: Angestellte zahlen 15,77 Euro für ihr Mittagessen, wie der Business-Lunch-Index zeigt. Bei 249 Arbeitstagen im Jahr könne man im Schnitt 3926,73 Euro sparen. 

Der Blick auf die Sparsumme motiviert mich, besonders glücklich macht mich aber der Nebeneffekt meines Konsumverzichts, mit dem ich nicht gerechnet hatte: Selbst gekochtes Essen schmeckt mir besser, und der Kaffee von daheim überzeugt mich mehr als die Brühe vom Bäcker um die Ecke. Die Fahrt mit dem Rad durch die kalte Morgenluft macht den Kopf frei, ich komme deutlich erholter zur Arbeit als im Gedränge der Straßenbahn. Abends nutze ich die Fahrzeit für mich, um von der Arbeit ab- und auf Feierabendmodus umzuschalten. Radfahren fällt jetzt unter Freizeit für mich. Gewinn durch Verzicht: So gesehen, fällt die Bilanz meines Selbstversuchs eindeutig aus. 

Bücher leihen, Apps löschen, Teller kleben

Bücher leihe ich mir mittlerweile in der Bibliothek aus, statt sie online zu kaufen, das befreit mich zudem von der Aufgabe, für ausgelesene Romane einen Platz im Regal zu finden. Nach einem entsprechenden Hinweis der Verbraucherzentrale prüfe ich außerdem die Apps auf meinem Handy und stelle fest: Ich brauche keine kostenpflichtige Fitnessapp zusätzlich zur Mitgliedschaft im Sportstudio, eine Meditations-App (statt zwei) reicht, und drei Streamingdienste sind mindestens einer zu viel. 

Schön finde ich die Erkenntnis, dass meine Familie und ich bereits nachhaltige Konsumentscheidungen treffen: Die Scherben kaputter Teller, Tassen und Schüsseln klebt mein Mann seit Jahren sorgfältig zusammen statt sie wegzuwerfen. Dass beim Essen regelmäßig ein Streit darüber entbrennt, wer den Teller mit Spinnennetzmuster bekommt – geschenkt. Ähnlich ist es bei Kinderkleidung mit Löchern. Die gebe ich seit Langem einmal pro Woche meiner Mutter zum Nähen, denn: Den guten Willen besitze ich, sie die notwendigen Fertigkeiten. Zum ersten Mal versuche ich, Socken zu stopfen. Fazit: Das hatte ich mir einfacher vorgestellt. Gespart habe ich immerhin 5,95 Euro für ein neues Paar. 

Impulsiv beim Onlineshopping

Doch ein paarmal werde ich schwach.  Eine Auswahl an Dingen, die ich mir in den vergangenen sechs Wochen gekauft habe – trotz Kaufverbot: eine Kommode fürs Schlafzimmer, die ich immerhin bei Ebay-Kleinanzeigen für 80 statt neu 169 Euro finde. Aus Bequemlichkeit drei Fertiggerichte im Supermarkt. Und eine schwarze Kunstlederjacke einer Billigmodekette für 89,95 Euro – sogenannte Fast Fashion mag günstig sein, gerät aber schnell aus der Mode und überdauert in der Regel keine Dekaden. Das weiß ich und klicke trotzdem auf den Button »Jetzt kaufen«. Weniger Alkohol, mehr Sport, aufhören zu rauchen – wie ich beim Konsumfasten scheitern Menschen regelmäßig daran, alte Gewohnheiten dauerhaft aufzugeben oder neue anzunehmen.

Konsumfasten: links Buch aus der Bücherei, rechts neues Buch
Erfolg versprechend: das neue Verhalten mit Belohnungen verknüpfen

Der Bestsellerautor James Clear geht in seinem Buch »Die 1 % Methode« der Frage nach, warum das so ist. Clear glaubt: Wir nehmen uns zu viel vor und knicken deshalb ein. Ein Schlüssel, um Gewohnheiten dauerhaft zu ändern, bestehe darin, das neue Verhalten mit Belohnungen zu verknüpfen – die für den Glückskick sorgen sollen. Clear schreibt von einem Paar, das weniger auswärts essen und dafür selbst kochen wollte. Um für eine kurzfristige Belohnung zu sorgen, zahlten sie fortan jedes Mal 50 Dollar auf ein extra Konto mit dem Zweck »Europareise«. Die Befriedigung, die sie daraus zogen, dass ihr Reisebudget um 50 Dollar anwuchs, war ein Top-Motivator, um ihr Ziel zu erreichen. Ein Verhalten, das mit einem positiven Ergebnis belohnt wird, werde mit hoher Wahrscheinlichkeit so oft wiederholt, bis es irgendwann automatisiert ist, schreibt James Clear. Für mich heißt das: Habe ich einmal eine gute Lösung für eine Herausforderung gefunden, und wiederhole ich sie regelmäßig, wird mein Verhalten zur Gewohnheit. Radfahren, Lunchbox packen, Teller kleben: Das klappt.

Was mich außerdem motiviert, weniger Zeit mit (virtuellem) Einkaufen zu verbringen: Ich gewinne Lebenszeit – etwa durch die Entscheidung Badewanne statt Onlineshopping. Und Tiefenentspannung statt eines kurzfristigen Kicks nach dem Klick. Auch die Summe, die ich in sechs Wochen sparen konnte, motiviert: 484,53 Euro – plus 9,95 Euro. Denn die Ohrringe in Christbaumoptik lasse ich liegen. So spare ich, indem ich Dinge nicht kaufe – und habe mehr übrig für das, was ich wirklich will. Wie die britische Autorin Sylvia Townsend Warner schon 1976 schrieb, frei übersetzt: »Die Inflation macht mir keine Sorgen. Ich (…) kaufe die Dinge, die ich mag: Wein, Obst, Wärme, saubere Bettwäsche, und ich spare, indem ich keine Dinge kaufe, die ich nicht mag.«


Text
            Sandra Michel
Mitarbeit  Patrick Pfordt
Fotos          Andi Achmann, Erik Mosoni

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