Nahaufnahme einer Frau, die ihren Mund weit geöffnet hat. Der Zahnarzt untersucht ihre Zähne mit zahnärztlichen Werkzeugen.Nahaufnahme einer Frau, die ihren Mund weit geöffnet hat. Der Zahnarzt untersucht ihre Zähne mit zahnärztlichen Werkzeugen.

22.06.2022

Fürchtet Euch nicht! So geht’s ohne Angst zum Arzt

Jeder zweite Patient in Deutschland hat Angst vorm Zahnarzt. Das ergab eine repräsentative Umfrage von YouGov 2020. Auch Angelika Brandl-Riedel fürchtete sich als Kind vor der Behandlung. Heute hilft die Vorsitzende des Deutschen Zahnärzte Verbandes anderen Menschen dabei, ihre Dentalphobie zu überwinden – und das ganz ohne Vollnarkose

Zur Person 
Zahnärztin Dr. med. dent. Angelika Brandl-Riedel

Dr. med. dent. Angelika Brandl-Riedel ist Vorsitzende des Deutschen Zahnärzte Verbandes und nimmt seit 35 Jahren Menschen die Angst vor der Zahnbehandlung.

Ob der deutsche Lyriker Eugen Roth, 1895 in München geboren und 1976 ebendort verstorben, ernsthaft Angst vorm Zahnarzt hatte, ist nicht überliefert. Auf jeden Fall lebte er zu einer Zeit, als es auf dem Zahnarztstuhl noch deutlich ruppiger zuging als heute. Roth, bekannt für seine humorigen Verse, packte seine Erfahrungen in ein Gedicht, das noch heute so manchem Dentalphobiker aus der Seele sprechen dürfte. Es beginnt so:

Nicht immer sind bequeme Stühle
Ein Ruheplatz für die Gefühle.
Wir säßen lieber in den Nesseln,
Als auf den wohlbekannten Sesseln,
Vor denen, sauber und vernickelt,
Der Zahnarzt seine Kunst entwickelt.

Dr. med. dent. Angelika Brandl-Riedel, die Vorsitzende des Deutschen Zahnärzte Verbandes, hatte früher Angst. Der Zahnarzt ihrer Kindheit war ein »böser Mann« ohne Geduld und Empathie. Aber sie konnte ihre Angst ablegen – und ist selbst Zahnärztin geworden. Nun ist sie seit 35 Jahren darauf spezialisiert, Menschen in ihrer Düsseldorfer Praxis die Angst vor der Zahnbehandlung zu nehmen. Das brauche mitunter viel Geduld. »Aber es funktioniert, auch ohne Vollnarkose«, sagt sie. Vom medikamentösen Tiefschlaf, den viele Praxen als Heil bringenden Weg bei Zahnarztangst preisen, hält sie nichts, zumindest nicht bei »normalen« Zahnbehandlungen bis hin zur Entfernung von Weisheitszähnen.

»Jede Vollnarkose ist eine Belastung für den Organismus und kein Spaziergang«, sagt Brandl-Riedel. Der behandelnde Zahnarzt habe leichtes Spiel mit schlafenden Patienten, er könne ganz in Ruhe und schnell arbeiten – manchmal bedeute das aber auch: »weniger behutsam«, sagt die Expertin. Und: »Es fehlt das positive Erleben, der Patient kann nicht die Erfahrung machen, dass es ja gar nicht so schlimm ist. Er bekommt keine Hilfe dabei, seine Angst abzulegen.«

»Ich hatte schon Patienten, die sind in Begleitung eines Psychotherapeuten in meine Praxis gekommen.« 

 Angelika Brandl-Riedel

Karies sei heute weniger verbreitet in deutschen Gebissen als vor 20 oder 30 Jahren. »Wir haben sehr viel mehr mundgesunde Patienten«, sagt Brandl-Riedel. Das liege vor allem daran, dass Gesundheitsämter, Zahnärzte und Krankenkassen eine massive Zahngesundheits-Offensive ins Leben gerufen haben. Der Nachwuchs wird heute schon in Kitas und Grundschulen regelmäßig und kindgerecht an Zahnhygiene und gesunde Ernährung herangeführt. 

Und doch gibt es noch immer genug Menschen, die nach Kräften vermeiden, sich zahnärztlich behandeln zu lassen. Die erst dann eine Praxis betreten, wenn kein Schmerzmittel mehr hilft und ihnen der Eiter aus dem Kiefer läuft. »Ich hatte schon Patienten, die sind in Begleitung eines Psychotherapeuten zu mir gekommen, weil sie sich sonst gar nicht erst durch die Tür getraut hätten«, sagt Brandl-Riedel. Eugen Roth dichtete: 

Doch leider, unterhalb der Plombe,
Stößt er auf eine Katakombe,
Die, wie er mit dem Häkchen spürt,
In unbekannte Tiefen führt.
Behaglich schnurrend mit dem Rädchen
Dringt vor er bis zum Nervenfädchen.

Brandl-Riedel hat die Erfahrung gemacht, dass es vor allem drei Dinge sind, die eine heftige Zahnarztangst auslösen können. Erstens: die Angst vor Schmerzen. Im normalen Ausmaß kann sie Patienten durch die Betäubungsspritze genommen werden. Ist sie jedoch besonders ausgeprägt oder kommt noch eine Angst vor Spritzen hinzu, wird es schwieriger. Brandl-Riedel arbeitet dann gern mit Hypnose. »Das funktioniert sehr gut, da kann ich einen Angstpatienten stundenlang behandeln und er liegt ruhig da und ist an seinem Wohlfühlort«, sagt sie. Allerdings: Das brauche gut geschulte Begleitung und viel Übung. Der Patient müsse die Hypnose wollen und regelmäßig zu Hause trainieren. 

Lachgas hält Brandl-Riedel in Maßen für geeignet. Oft helfe es gut, mache den Patienten lustig und entspannt. In seltenen Fällen reagierten Menschen mit einem Kater auf Lachgas. 

 »Ich erkläre meinen Patienten immer, dass sie der Chef im Stuhl sind.«

 Angelika Brandl-Riedel

Auslöser Nummer zwei: die Angst vor dem Ausgeliefertsein. Normalerweise weiche man automatisch zurück, wenn sich jemand dem eigenen Gesicht auf weniger als 30 Zentimeter nähert. Doch beim Zahnarzt geht das nicht. Wir liegen da, mit offenem Mund, über der Brust ein Tablett mit blitzenden Werkzeugen – und können nirgendwohin, können noch nicht einmal sprechen. »Ich erkläre meinen Patienten immer, dass sie der Chef im Stuhl sind«, sagt Brandl-Riedel. Man könne ein Handzeichen vereinbaren, mit dem der Patient Pausenbedarf signalisieren kann. »Ich sehe das aber auch sofort in den Augen«, sagt die Angst-Expertin.

Manchmal sorgen schon kleine Dinge für Ablenkung und helfen so gegen die Angst: beruhigende Musik im Hintergrund oder über Kopfhörer schön laut der Lieblingssong. Ein spannendes Bild an der Decke oder ein Bildschirm mit den neuesten Nachrichten. Manch einer schwört auch auf eine Videobrille – doch davon rät Brandl-Riedel ab: »Ich muss die Augen sehen. Sonst können die Patienten kollabieren, ohne dass ich es merke.«  

Dann wäre da noch Angst-Auslöser Nummer drei: die Scham. »Wer ewig nicht beim Zahnarzt war, hat oft ein Trümmergebiss mit fauligen Stumpen und üblem Geruch«, sagt die Spezialistin. »Diesen Menschen ist es peinlich, zu uns zu kommen.« Auch da helfe ein ausführliches Gespräch, Verständnis zu zeigen, Vertrauen aufzubauen. »Ich sage dann immer: Wir freuen uns, dass Sie kommen und uns viel Arbeit mitbringen.«

Am Anfang von allem steht das Kind. Wenn es keine Zahnarztangst entwickelt, die sich dann möglicherweise durch ein ganzes Leben zieht, ist viel gewonnen. Brandl-Riedel arbeitet mit Handpuppen und Feuerwehrmann-Sam-Geschichten. Sie lässt Harry Potter zaubern und Kinder selbst die Mundspülung betätigen. Manchmal muss sie dabei die Angst der Eltern gleich mitbehandeln, die diese auf ihre Kinder übertragen. Zum Beispiel mit dem gut gemeinten Hinweis: »Du musst keine Angst haben!« Der so manchem Kind überhaupt erst suggeriert, dass Zahnarzt etwas Schlimmes ist. Brandl-Riedel hat festgestellt: »Man kann Kinder gut behandeln, man muss sich nur Zeit nehmen.«

»Wer regelmäßig zur Vorsorge geht, hat gesündere Zähne und senkt so das Risiko für eine traumatische Behandlung.«

Angelika Brandl-Riedel

Am Ende ist es gut investierte Zeit, denn wer keine Angst hat, geht regelmäßig zur Vorsorgeuntersuchung. Und wer das tut, hat gesündere Zähne und damit ein geringeres Risiko, mal eine traumatische Behandlung durchmachen zu müssen – die wiederum der Anfang einer ausgeprägten Zahnarztangst sein kann.    

Am Ende, weil es so schön ist, hier noch der Hinweis, dass auch Eugen Roth in seinem Zahnarzt-Gedicht zu einem versöhnlichen Schluss kommt: 

Hat er sein Werk mit Gold gekrönt,
Sind mit der Welt wir neu versöhnt
Und zeigen, noch im Aug die Träne,
Ihr furchtlos wiederum die Zähne,
Die wir – ein Prahlhans, wer’s verschweigt –
Dem Zahnarzt zitternd nur gezeigt.

Text Susanne Rohlfing
Foto istockphoto / Gabriele Fey
Illustration Michael Meier

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